Tollhaus mit Kreidefelsen

Rügen: Deutschlands schönste Insel steht vor der Zerreißprobe. Konservative Palastrevolution gegen Naturschutz- und Tourismuskonzepte  ■ Von Manfred Kriener

Der Himmel über Rügen hängt voller Gänse. Es waren noch nie so viele. Und sie waren noch nie so laut. Das große Geschrei hat hohen symbolischen Wert: Auf dem Eiland im Vorpommerschen ist die Hölle los. Während die Gänsejäger noch warten müssen, bevor sie den Braten vom Himmel holen, wird an Stammtischen und in Leserbriefen schon jetzt scharf geschossen.

Was in Rügen die Ostseewellen auf Orkanhöhe treibt, wird in anderen Regionen fast beiläufig verordnet: die Einrichtung eines Landschaftsschutzgebietes. Doch auf der größten und schönsten Insel Deutschlands gerät der schlichte Verwaltungsakt zur Schlacht um die Zukunft. Es geht um grundsätzliche Dinge: Autopiste oder Lurche, Arbeitsplätze oder Naturschutz? Und es geht um Ost gegen West, CDU gegen SPD.

Verständlich wird der erbitterte Streit erst vor dem Hintergrund der sozialen Not. Wenn demnächst die ABM-Stellen auslaufen, ist auf Rügen jeder Dritte arbeitslos. Die Schließung der Inselstandorte der Nationalen Volksarmee kostete 20.000 Arbeitsplätze, der Zusammenbruch des Fischkombinates in Saßnitz noch mal mehr als 3.000 Jobs. Jetzt ist auch noch der letzte Rest der Fischverarbeitung, die Rügenfisch GmbH, abgewandert. Was soll nun werden aus der Insel Caspar David Friedrichs mit ihren „geheimnisvollen Mooren und feinsandigen Stränden“?

Für die parteilose Landrätin Karin Timmel und ihren Wirtschaftsdezernenten Udo Knapp (SPD) ist der Fall klar. Die Insel soll ihr Kapital einer einmalig schönen Landschaft nutzen und daraus ihre Zukunft bauen. Und die liegt im Gestern: Vormals gehörten die Seebäder der Kreide- Insel zu den mondänsten Deutschlands, waren die wilhelminischen Strandhäuser strahlender Anziehungspunkt für Touristen.

Mit einem grünen Image und dem Gütesiegel eines Landschaftsschutzgebietes soll die Insel Erholung pur in großartiger Naturlandschaft anbieten. Wirtschaftliche Belebung durch Tourismus und ein wenig Land-, Forst-, und Fischereiwirtschaft. Und vielleicht, so hofft die Landrätin, siedeln sich dann einige Betriebe an, denen ein grünes Image gelegen kommt. „Diese Chance“, warnt Knapp, „darf nicht verramscht werden.“

Udo Timm, Chef der Rügener CDU-Fraktion, sieht das vollkommen anders. Für ihn erstickt der Landschaftsschutz „alles, was noch auf der Insel lebt“. Niemand, sagt Timm der taz, werde künftig auch nur eine Fahne aufstellen können oder ein Trockenklo im Schrebergarten. 96 Prozent der Insel unter Schutz zu stellen sei „ganz einfach wahnsinnig“, gefährde Wirtschaft, Landwirtschaft, Zukunft.

Die CDU setzt auf Industrieansiedelung und eine funktionstüchtige Infrastruktur: Eine vierspurige Autotrasse, vielleicht sogar ein zweiter Damm zum Festland. Der Ausbau des Fährhafens Mukran ist mit 150 Millionen Mark Fördermitteln bereits in Gang. Jetzt müsse Investoren ein attraktives Umfeld geboten werden, Naturschutz ist da nur störend. Deswegen hat die Partei Widerspruch erhoben. Deswegen sammelt sie als außerparlamentarische Opposition Unterschriften.

Die Art und Weise, wie sie das tut, erinnert Marlies Preller, Kreisvorsitzende des Naturschutzbundes, an finsterste DDR-Zeiten: „So was Demagogisches habe ich noch nie gelesen.“ O-Ton des CDU-Kreisverbandes: „Den Menschen auf Rügen verbleiben nur noch die ausgewiesenen Dorf- und Stadtkerne, in denen sie sich nach Art von Ureinwohnerreservaten aufhalten dürfen. Kein Deich, kein Strand, keine Wiese darf von ihnen betreten werden.“ Wegen des „Verbots sämtlicher Baumaßnahmen“ würden die Höfe verfallen, „Ruinen und Trostlosigkeit Rügens Landschaftsbild bestimmen“.

Daß dies kompletter Unsinn ist, weiß natürlich auch die CDU. Doch in dem Streit geht es längst nicht mehr allein um Naturschutzbelange. Hier mischt sich die Angst vor Veränderung mit der Wut über die „plattgemachte“ alte Existenz. Hier wehren sich Menschen gegen moderne Konzepte, die sie als übergestülpt empfinden. Hier flüchten sie ins traute Prosperitätsklischee von breiten Straßen und rauchenden Schornsteinen. Und: Hier wehrt sich Ost gegen West. Denn der Wirtschaftsdezernent ist nicht nur ein Ex-Grüner, er kommt auch noch aus dem Westen.

Knapp wolle die Lurche schützen und die Menschen vertreiben, wurde ihm im Kreistag um die Ohren gehauen. Die 69jährige Insulanerin Lotte Bendler weiß genau, was man mit so einem am besten macht. Sie empfiehlt per Leserbrief dem Rügen-Parlament: „Trennen Sie sich endlich von importierten Machtbesessenen. Sie haben kein Herz für uns. Plattgemacht haben sie schon genug und ein Absatzland aus uns gemacht ... Wir sind das Volk!“

Inzwischen ist der Konflikt aufs Festland übergeschwappt. In Schwerin kämpft die Landes-CDU gegen Rügens ökologische „Fanatiker“. Und selbst die oberste Naturschützerin Deutschlands, die Bonner Umweltministerin Angela Merkel, die ihren Wahlkreis auf Rügen hat, meutert gegen den Landschaftsschutz: Während ihr die SPD vorhält, doch bitte einmal über das Berufsbild einer Umweltministerin nachzudenken, sieht Merkel Mecklenburg-Vorpommern auf dem Marsch ins Naturschutzreservat Deutschlands.

Landrätin Timmel setzt noch immer auf die Macht der Argumente. Notfalls will sie tingeln gehen und überall erklären, wie harmlos der Landschaftsschutz ist, das „schwächste Instrument des Naturschutzes“. Immer wieder weist sie darauf hin, daß große Gewerbegebiete reserviert und ausgeklammert seien. Doch gleichzeitig ist sie „fassungslos“ über die Wucht der Panikmache, über das schamlose Ausnutzen von Zukunftsängsten, über parteipolitische Machtspiele. Denn Rügen ist der ungeliebte rote Punkt im schwarzen Mecklenburg, der einzige Kreis ohne CDU-Mehrheit.

Unterdessen entzweit der Streit selbst Familien. Betrunken sei ihr Mann nach Hause gekommen und habe ihr verbieten wollen, für das Landschaftsschutzgebiet abzustimmen, hat eine Kreisverordnete gebeichtet. Zwei Kreisräte wurden am Telefon anonym bedroht.

Jetzt hat sich Umweltpfarrer Oeser als Vermittler eingeschaltet. Idealer Versöhnungstermin wäre der Dezember. Nicht nur wegen des weihnachtlichen Friedens. Im Dezember kommt auch die prominenteste Gegnerin des Rügener Naturschutzkonzepts, Umweltministerin Angela Merkel, auf die Insel. Zum Abschluß des europäischen Naturschutzjahres muß sie eine Festrede halten. Thema: Die Notwendigkeit von Landschafts- und Naturschutz.