Ökonomie der Integrationspolitik: Endlich abends beim Türken einkaufen
■ Deutschland darf die MigrantInnen nicht vor ihrer Leistung schützen
Angesichts dieser Entwicklung gewinnt die gegenwärtig geführte Debatte um eine Deregulierung der deutschen Wirtschaft, vor allem im Bereich der Liberalisierung der Ladenöffnungszeiten, eine eindeutige migrationspolitische Dimension. In den klassischen Einwanderungsgesellschaften legen MigrantInnen durch selbständige Arbeit die Grundlage für eine Integration der späteren Generationen. Hier wird nicht selten die ökonomische Basis für die Ausbildung der Kinder, für eine bessere Wohnsituation, für relativen wirtschaftlichen Aufstieg der Migrantenfamilien in den kommenden Generationen gelegt.
Auch in Deutschland bewegen sich viele Migrantenfamilien in Richtung Selbständigkeit. Der eine Grund hierfür ist der für MigrantInnen mit vielen Hürden versehene Arbeitsmarkt. Der zweite Grund aber liegt in den traditionellen Fähigkeiten und Bindungen vieler MigrantInnen im Handel und im selbständigen Dienstleistungsgewerbe.
Deutschland allerdings nimmt durch die Regulation der kleinen und mittleren Wirtschaftsbetriebe (mit Großkonzernen geht man da wesentlich grozügiger um) den MigrantInnen viele Chancen, wirtschaftlich in Deutschland Fuß zu fassen. Der türkische Lebensmittelladen, der bereit wäre, 24 Stunden, 7 Tage die Woche, 365 Tage im Jahr offen zu halten, darf nicht öffnen. Und tut er es doch, kommen die InhaberInnen mit dem Gesetz in Konflikt und das kann im schlimmsten Fall mit der Abschiebung enden.
Wir müssen uns klarmachen: Erstens wird es neue soziale Leistungen in Deutschland nicht mehr geben, schon gar nicht für MigrantInnen. Im Gegenteil, sollte das sogenannte Ausländerleistungsgesetz Wirklichkeit werden, wird es zu einer dramatischen Verknappung verfügbarer Einkommen bei den Zugewanderten und Flüchtlingen kommen.
Zweitens waren gleichzeitig noch nie so viele MigrantInnen arbeitslos (256.362 Personen in 1992), noch nie war ihr Anteil an der Arbeitslosenquote im Vergleich mit den deutschen Arbeitslosen so hoch (84,8% höhere Arbeitslosenquote bei den MigrantInnen als bei den Deutschen) und noch nie war ihre Chance, in Arbeit zu kommen, so schlecht wie heute.
Drittens erwirtschafteten allein die türkischen Selbständigen in Deutschland im Jahre 1994 ber 31 Milliarden DM, beschäftigten 135.000 Mitarbeiter (darunter 15% Deutsche) und investierten 8 Milliarden DM. Alle MigrantInnen zusammen erwirtschaften somit einen Umsatz von über 50 Milliarden DM. Im Jahre 1991 waren 7,2% aller erwerbstätigen MigrantInnen selbständig oder mithelfende Familienangehörige.
Die migrationspolitisch motivierte Forderung nach Deregulierung enthält dennoch schwerwiegende sozialpolitische Probleme. Vor allem muß sichergestellt werden, daß minderjährige Familienangehörige, vor allem die Mädchen, davor geschützt werden, von ihren Vätern hemmungslos als unbezahlte Arbeitskräfte mißbraucht zu werden. Es kann keine Vorteil sein, wenn Migrantenfamilien sich wirtschaftlich etablieren, dafür aber die soziale Entwicklung und die Schulausbildung der Kinder auf der Strecke bleibt.
Unter Beachtung der oben genannten Regelungsbedarfe aber ist klar: verbaut Deutschland seinen MigrantInnen auch noch die letzte Chance, wirtschaftlich Fuß zu fassen, kann alles Gerede von der Einwanderungsgesellschaft getrost vergessen werden. Es gibt keine Integration ohne wirtschaftliche Integration. Die Einwanderungsgesellschaft wird multi-ökonomisch sein, oder sie wird nicht multi-kulturell sein.
Matthias Güldner,
(Referatsleiter für Auslnderintegration beim Senator für Frauen, Gesundheit, Jugend, Soziales und Umweltschutz)
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