Antifaschistischer Anti-Pop

Der NGBK stellt den Sixties-Collagen-Künstler Boris Lurie und seine New Yorker No-Art!-Gruppe vor  ■ Von Harald Fricke

„Howl“ steht in groben Pinsellettern auf der Leinwand. Das Motto von Allen Ginsberg als Graffito in einem Gestrüpp von gestisch durcheinandergemanschten Farben. Das Bild von 1959 ist keineswegs als Hommage gedacht: Die Farben schillern nicht psychedelisch, sondern wirken matt, stumpf oder einfach dreckig grau.

Die Flächen am unteren Bildrand sehen wie vergorenes Blut aus, sie erinnern eher an Schlachthauswände als an flott gemalte Botschaften der Beat generation. Davor liegt eine „No!-Sculpture“ auf rotem Perserteppich, die das No-Art!-Oberhaupt Boris Lurie gemeinsam mit Sam Goodman für die New Yorker Gertrude Stein Gallery 1964 produziert hat: ein modellierter Haufen Scheiße in entsprechender Lackierung.

Zwischen „Howl“ und diesem Gipshaufen spielt sich die Geschichte von No Art! ab, einer Provo-Künstlergruppe aus der Lower East Side der frühen Sixties, die der NGBK umfangreich als Retrospektive aufgearbeitet hat. Im Galerie-Schlauch an der Oranienstraße wird die Entwicklung der Gruppe gezeigt, das Haus am Kleistpark ist ausschließlich Boris Lurie gewidmet. Heute verwaltet der 71jährige Lurie den Nachlaß einer Bewegung, die neben der ungleich smarteren Pop-art nahezu vergessen wurde. Wie bei den Situationisten gilt für die anarchistische Szene um No Art!: Wenige waren drinnen, und viele wollten dazugehören. Die Japanerin Yayoi Kusama etwa hat ihre obskuren Gips-Penis-Beete lediglich 1962 bei einer Show im Rahmen von No Art! ausgestellt, die meisten der von Isser Aronovicis gezeigten Kommunenszenen entstanden fünf Jahre nach dem Ende der Gruppe, und Allan D'Arcangelos „American Madonna“ (1962) wäre als bourgeoise Anbiederung an die proamerikanische Popkunst gleich verworfen worden (1972 stellte er Poster für die Olympischen Spiele her). Mittlerweile hat sich das Verhältnis umgekehrt. Während Goodman und Stanley Fisher, die beiden anderen Mitbegründer von No Art!, längst gestorben sind, sucht Lurie nachträglich Verbündete in der Kunstwelt. Doch Happening-Künstler Allan Kaprow kam bis auf einen aktuellen Briefwechsel nie mit No Art! in Berührung, und Wolf Vostell hat Lurie für den Katalog ein herzliches Grußwort geschickt, ohne auf eine etwaige Zusammenarbeit einzugehen: „Inzwischen blicke ich wieder auf den spanischen Sand, der sofort an Kunst erinnert.“ Dort schweift sein Blick von El Greco zu Picassos „Guernica“, und Goodman, Fisher und Lurie mit ihrem häßlichen Alltagsmüll sind schnell vergessen. Trotz der gewünschten Anbindung zeichnet Boris Lurie eine Anti-Haltung aus, die sich jedem Markt und allem Geschmack verweigert: Pornos werden mit hungernden Kindern collagiert, Pin-ups auf Kartons neben KZ- Opfer geklebt, Werbeplakate zur obszönen Toilettenkritzelei umgewandelt. Das Ganze wird unter Schichten von Spraylack begraben, verätzt, zerrupft und mit Gewalt bearbeitet. Über schwarzweißen SM-Fotos kunstvoll verschnürter Frauen steht nur ein Wort: NO.

Teil des Materialfundus, aus dem sich Boris Lurie bedient; der andere führt zurück zum Holocaust. Lurie, 1924 in Leningrad geboren, hatte die letzten vier Kriegsjahre in den Konzentrationslagern von Riga und Lenta, dann in Stutthof und dem Außenlager Buchenwald zugebracht. Seine Mutter kam im Lager um. Als Lurie 1946 nach New York auswandert, wird die Judenvernichtung zentrales Motiv seiner künstlerischen Auseinandersetzung. Zunächst malt er Bilder von ausgemergelten Häftlingen, die den Gefängnishof kehren; dann Bilder wie „Dismembered Woman“ (1955), auf dem betonfarbene Arme verbindungslos um einen weiblichen Torso kreisen. Die Zerstückelung wirkt drastischer als bei Fernand Léger, das Fleisch verfallener als in Bildern Francis Bacons. Anfang der sechziger Jahre kippt das Leid in Haß um, die Opfer werden mit Werbe-Images aus Zeitschriften gepaart. In der Obszönität verbirgt sich tiefe Verzweiflung: Lurie ist vom militärischen Engagement der USA in Korea schockiert. Stärker noch richten sich die Arbeiten gegen die Verdrängung des Holocaust. Obwohl der Eichmann-Prozeß alle Welt erneut mit dem Ausmaß der Vernichtung konfrontiert hat, will man selbst in der jüdischen Gemeinde der Lower East Side, zu der Lurie gehört, vergessen. So sollen die Collagen aus Leichenbergen und Frauenschenkeln nicht allein schockieren, sondern auch mahnen, nicht zur Tagesordnung überzugehen. Bis heute hält Lurie die USA am Holocaust für mitschuldig, weil sie nicht früh genug die Transportwege zu den Lagern bombardiert haben.

Doch selbst wenn Wilhelm Reich, Horkheimer und Adorno gegen Kunst nach Auschwitz und die doppelte Sexualmoral der US- Amerikaner ins Feld geführt werden, ist die künstlerische Strategie schnell durchschaut. Luries Zugang zum Material ist nicht minder voyeuristisch als der, den er etwa an Sexheften bloßstellen will. Die Collagen aus abertausend nackten Frauen beuten den weiblichen Körper als Objekt aus und werden unfreiwillig zum Agenten der Pornographie. Doch bei aller Obsessivität benennt Lurie wenigstens die Stereotype seiner Zeit. Das Bild des Pin-ups und der Sexbombe geht mit dem Aufstieg der USA zur Atommacht einher.

Boris Lurie und No Art!, bis 26.11. im Haus am Kleistpark, Grunewaldstraße 6-7, und NGBK, Oranienstraße 25; Katalog 50 DM