Zwei Körper des Königs

„King George“, ein Film über Exzentrizität und Normalität, Macht und Wahnsinn  ■ Von Jörg Lau

Der König kann sich über den Verlust der Kolonien, die in der Welt unterdessen als „Vereinigte Staaten“ bekannt sind, nicht beruhigen. Immer wieder fängt er zum Leidwesen seines Premiers Pitt davon an. Man könnte die Sache mit den vom König hartnäckig weiterhin so genannten „Kolonien“ für einen Tick, für eine Exzentrizität, halten, aber dann sieht man ihn durch ein Feld stapfen, mit einer Gerte wie wild auf die Getreidehalme einpeitschend: „So gehen wir mit Amerika um! Nehmt dies, Herr Kolonist. Und dies, mein Herr! Und dies!“ Dann greift der Monarch in ein Cricketspiel ein, um den Untertanen zu zeigen, wie man einen Schläger zu halten habe. Schließlich treibt es ihn plötzlich, mitten in der Nacht aufzustehen, seine Pagen zu wecken, um in ihrer Gesellschaft im Nachthemd den Tag zu begrüßen und die Gebete zu sprechen. Und dann ist da auf einmal, als Krönung des königlichen Nonkonformismus, die ungewöhnliche Farbe des herrscherlichen Urins: Georg III. pißt blau.

„Glaubst du, daß du verrückt bist?“ fragt die Königin den König. „Ich weiß nicht“, antwortet er. „Ich rede und rede und rede. Ich höre die Worte, und also muß ich sie aussprechen. Ich muß meinen Kopf von Worten leeren.“

Die mangelnde Zurechnungsfähigkeit von Königen hatte die englischen Kronjuristen schon lange beschäftigt, bevor George III. im Jahr 1788 plötzlich seinen eigenen Worten nicht mehr folgen konnte. Die englischen Juristen hatten eine politische Theologie entwickelt, die verhinderte, daß die Institution des Königtums durch das Fehlverhalten des Königs Schaden nehmen konnte. Diese Theorie ist durch die Studie von Ernst Kantorowicz unter dem Titel „The King's Two Bodies“ bekannt. „Die zwei Körper des Königs“ wäre auch ein passender Titel für den Erstlingsfilm von Nicolas Hytner, um so mehr, als man sich mit der Titelgebung international so schwer getan hat.

Ursprünglich, so die Legende, hatte der Film, wie das zugrunde liegende Bühnenstück, „The Madness of George III“ heißen sollen. Die Samuel L. Goldwyn Company jedoch strich die römischen Zahlen, denn die amerikanischen Kinobesucher hätten sich bestimmt gefragt, warum man ihnen Teil I und II über den verrückten George vorenthalten hat. In Deutschland heißt der Film nun etwas unentschieden „King George. Ein Königreich für mehr Verstand“. Das läßt an eine Monty-Python-mäßige Klamotte denken und ist insofern eine grobe Irreführung. Dies ist, ungeachtet der zahlreichen slapstickhaft komischen Szenen, ein ernster Film über das Normale und das Pathologische. Alan Bennett, der nach seinem eigenen Theaterstück das Drehbuch schrieb, kann man nicht genug dafür loben, daß er sich der Krankheit des Königs mit einer gewissen Scheu und Respekt genähert hat und es peinlich vermied, den Wahnsinn im Stil populärer Antipsychiatrie zum authentischen Moment der Wahrheit zu verkitschen.

„King George“ läßt sich mit Gewinn als Historien- und Kostümfilm konsumieren (der Ausstattung wegen, die mit einem Oscar geehrt wurde). Er funktioniert auch als melodramatische Geschichte des Kampfes gegen die mit Macht zuschlagende Geisteskrankheit. Der Film bringt einen aber auch als Essay über die Macht und den Machthaber auf Gedanken. Um dies zu erklären, muß man einen kleinen Exkurs in die Theorie von den zwei Körpern des Königs machen. „Der König“, heißt es in englischen Rechtsgutachten aus elisabethanischer Zeit, also schon etwa zwei Jahrhunderte vor der Zeit von George III., „hat in sich zwei Körper, nämlich den natürlichen (body natural) und den politischen (body politic). Sein natürlicher Körper ist für sich betrachtet ein sterblicher Körper, der allen Anfechtungen ausgesetzt ist, die sich aus der Natur oder aus Unfällen ergeben, dem Schwachsinn der frühen Kindheit oder des Alters und ähnlichen Defekten, die in den natürlichen Körpern anderer Menschen vorkommen. Dagegen ist der politische Körper ein Körper, den man nicht sehen oder anfassen kann. Er besteht aus Politik und Regierung, er ist für die Lenkung des Volks und das öffentliche Wohl da. Dieser Körper ist völlig frei von Kindheit und Alter, ebenso von den anderen Mängeln und Schwächen, denen der natürliche Körper unterliegt. Aus diesem Grund kann nichts, was der König in seiner politischen Leiblichkeit tut, durch einen Defekt seines natürlichen Leibs ungültig gemacht oder vermindert werden.“

Was aber, wenn der natürliche Körper des Königs sich plötzlich darin gefällt, im Nachthemd durch den Palast zu jagen, wechselweise Obszönitäten und Gebete auszustoßen, in Gegenwart der Königin Hofdamen zu bespringen und seinem eigenen Sohn, dem Prince of Wales, im Beisein der höfischen Gesellschaft an die Gurgel zu gehen? Dann wird man annehmen müssen, daß es sich um einen Aufstand des body natural gegen den body politic handelt – und wenn die beiden Körper des Königs sich nicht vertragen, hat man wirklich ein Problem. Will man den politischen Körper schützen, zu dem nach englischer Theorie alle politischen Institutionen, also auch das Parlament, gehören, dann muß man um seinetwillen den Kampf mit dem natürlichen Körper aufnehmen. Denn in dem Augenblick, in dem der König ausfällt, liegt die Macht zwar nicht auf der Straße, aber doch auf den Korridoren und in den Lobbys und wartet nur darauf, daß ein anderer natürlicher Körper sie ergreift. In diesem Falle ist der Prince of Wales an der Reihe, in dessen Rolle Rupert Graves, irrtümlicherweise im englischen Kino oft als Beau besetzt, endlich seine Schmierlappenqualitäten voll ausfahren kann.

Wem die Körpermetaphorik dieser politischen Terminologie verschroben und veraltet vorkommt, möge bedenken, daß sie im Ausnahmezustand den Aufstand gegen den König legitimiert. Durch die Theorie der zwei Körper war es den englischen Revolutionären des 17. Jahrhunderts möglich, im Namen des Königs Karl I. Truppen gegen eben jenen König Karl I. aufzustellen und zu sagen: „We fight the king to defend the King.“ In unserem Rechtsdenken war ein solches Paradox unvorstellbar – nicht zum besten des Bürgermuts, wie man weiß.

Man kann das noch weiterspinnen, denn von der Beschäftigung mit dem body natural des Herrschers kommen wir nicht los: der Alkoholismus, die Herzschwäche und die anderen Defekte, denen Boris Jelzins natürlicher Körper unterliegt, sind keine Privatangelegenheit. Die Weltöffentlichkeit interessiert sich nicht aus Klatschbedürfnis dafür, sondern weil der russische body politic ohne Jelzin ein anderer sein wird.

Nicolas Hytners Film regt zwar zu solchen Abschweifungen an, aber er zielt zum Glück nicht auf die politische Parabel. Es ist sehr bestrickend, wie es Nigel Hawthorne in der Titelrolle gelingt, die grotesken Seiten des königlichen Irrsinns herauszustreichen und in der nächsten Minute die Mitleid erregende Tragödie eines Mannes zu zeigen, der vom Strom seiner eigenen Rede überschwemmt wird. Ab und an kann er seinen Kopf über die Wasserlinie strecken, bevor die nächste Welle ihn überspült. Die Medizin baut ihre Kabinette des Schreckens auf, in denen die psychische Krankheit auf die zeitgenössische Mythologie der Körpersäfte transformiert wird: Man setzt Schröpfköpfe an, liest den Stuhl des Königs und orakelt über sein Urin. Erst mit dem Auftauchen von Dr. Willis (Ian Holm) wird die Krankheit als psychiatrisches Problem ins Auge gefaßt. Eine ungeheure Überschreitung ist dazu notwendig, denn als Gegenüber akzeptiert dieser Arzt nicht die Säfte und Exkremente des Königs, sondern den König als Person. Dr. Willis wird den Herrscher unter Schmerzen lehren, sich zu beherrschen. Sein bürgerliches Heilsversprechen lautet, daß Widerstände den Charakter schulen. Der Kampf, den Willis, Psychiater avant la lettre, mit dem von Regressionswünschen geschüttelen König führt, markiert eine folgenreiche Revolution, die unterhalb des Politischen verlief. Es ist die Revolution der modernen Medizin, jener demokratischen Biomacht, vor der alle Menschen gleich sind – als Patienten.

„King George“, Regie: Nicolas Hytner