Die Stille nach dem großen Streik

Im letzten Krupp-Betrieb wird entlassen, die nach dem Streik 1988 versprochenen Ersatzarbeitsplätze gibt es nicht. Doch die Helden von einst sind des Protestierens müde und machen in Recycling  ■ Aus Rheinhausen Walter Jakobs

Rosa Luxemburg schaut Theo Steegmann nicht mehr über die Schulter. Das Plakat mit der ermordeten Sozialistin fehlt an der Wand jenes Büros, das dem stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden der Krupp-Hütte in Rheinhausen jahrelang als Schaltzentrale des Arbeitskampfes diente. Ein Computer hat das papierene Chaos auf dem Steegmann- Schreibtisch verdrängt. Was hier heute passiert, erfährt man mit einem Blick auf den Drucker, der einen Datensalat über Altautos ausspuckt. Wer wissen will, was ein zehn Jahre alter Anlasser auf dem Gebrauchtteilemarkt noch einbringt, der wird hier fündig.

Gleich gegenüber dem flachen Betriebsratsbüro, das nun die Verwaltung einer neugegründeten Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaft beherbergt, liegt die ehemalige Steinhalle, in der die feuerfesten Steine für die Hochöfen der untergegangenen Krupp- Stahlschmiede gelagert wurden. Jetzt warten in der Halle Dutzende von Autos auf ihre Zerlegung. Gut möglich, daß einige an ihren Ursprungsort zurückgekehrt sind, denn in Rheinhausen wurden jahrzehntelang jene dicken Stahlbrammen hergestellt, die in einem komplizierten Walzprozeß als Autobleche endeten.

Inzwischen kocht, zischt und glüht auf dem 260 Fußballfelder großen Hüttengelände nichts mehr. Eine dicke Rostschicht überzieht die beiden Hochöfen, und zwischen den zahlreichen Schienen sprießt das Grün. Dort, wo in den 60er Jahren noch bis zu 16.000 „Kruppianer“ ihr Brot verdienten, verlieren sich heute ein paar hundert Menschen. Zu ihnen zählt Theo Steegmann. Als Geschäftsführer der Beschäftigungsgesellschaft kümmert sich der linke Sozialdemokrat jetzt um rund 120 Langzeitarbeitslose. Auch 60 ehemalige Stahlkocher zählen dazu.

Als die Hütte Mitte Februar 1993 dicht machte, waren noch 2.300 Kruppianer an Bord. Bis auf die jetzt bei Steegmann gelandeten sind inzwischen alle versorgt. 700 schieden als Frührentner aus, 150 versuchten mit der Abfindung in der Tasche auf eigene Faust ihr Glück, und die übrigen kamen in anderen Werken des Krupp-Konzerns unter. Anders als bei den kleinen Zuliefererbetrieben stürzte von den Kruppianern materiell niemand ins Nichts. Der 39jährige Steegmann, der zu den führenden strategischen Köpfen des legendären Arbeitskampfes zählte, ist darauf stolz, trotz aller Enttäuschungen: „Ohne unseren Kampf hätte es das nicht gegeben.“

Es dürfte tatsächlich schwerfallen, in Zukunft vergleichbare, mehrere hundert Millionen Mark teure Sozialpläne herauszuholen. Steegmann befürchtet gar, daß das Ende der Rheinhausener Hütte „die letzte Schließung ohne Kündigung war“. Insoweit haben die Kruppianer noch Glück gehabt. Denn dem derzeitigen Stahlboom folgt mit Sicherheit die nächste Krise, weil sich an den strukturellen Stahlüberkapazitäten in Europa nichts geändert hat. Steegmann mag deshalb auch nicht mehr über das Aus „lamentieren“. Er will jede Chance für den Wandel nutzen, „auch wenn wir dabei ganz kleine Brötchen backen müssen“.

Genau das versucht Helmut Laakmann, der ehemalige Stahlwerksleiter, der mit seinen dramatischen Reden auf den Streik-Versammlungen die Krupp-Führungsetage in Angst und Schrecken versetzt hatte. Eigentlich wollte Laakmann sich mit einem Krupp-Meister zusammentun und ins Fahrradgeschäft einsteigen. Doch dann ließ er sich von Steegmann und anderen umstimmen und nahm das Krupp-Angebot an, auf dem Werksgelände eine Recyclingfirma aufzubauen.

Während die Friedhofsruhe auf dem riesigen Gelände sonst nur hin und wieder von Schrott abfahrenden Lastern unterbrochen wird, künden die dröhnenden Shredder in der Laakmann-Halle vom Neuaufbau. In der Jahrhunderthalle, die einst die Edelproletarier der Krupp-Hauptwerkstatt beherbergte, sind inzwischen zwölf Mann damit beschäftigt, unter marktwirtschaftlichen Konkurrenzbedingungen mit neuartigen Verfahren Plastik-Metall-Verbundstoffe so zu trennen, daß sie als Rohstoffe wieder vermarktet werden können. Kleine Brötchen: Bald werden zwei Leute aus Steegmanns weitgehend über das Arbeitsamt finanzierten Beschäftigungsgesellschaft zu Laakmann wechseln.

Solche Ansätze schlagen sich indes kaum auf der Habenseite der Arbeitsplatzbilanz nieder. Dafür sorgt der Krupp-Konzern selbst. Jetzt steht nämlich der letzte Kruppsche Großbetrieb in Rheinhausen, die Krupp-Fördertechnik, auch noch zur Disposition. Von den 700 Arbeitsplätzen sollen 250 ganz wegfallen und der Rest zur Konzernzentrale nach Essen wandern. Im Mai 1988, am Ende des Arbeitskampfes, hörte sich das ganz anders an. Damals sagten die Unternehmensleitungen von Krupp und Mannesmann nach Verhandlungen zu, an denen auch Ministerpräsident Johannes Rau (SPD) teilgenommen hatte, „durch eigene Aktivitäten und die Bemühungen um Dritte am Standort Duisburg-Rheinhausen so viele Arbeitsplätze zu schaffen, daß die Zahl der verbleibenden und der neuen Arbeitsplätze ab Ende 1991 mindestens 1.500 beträgt“.

Tatsächlich wurden aber bis heute nach den glaubwürdigen Angaben der IG Metall und des Krupp-Betriebsrates lediglich 800 neue Jobs geschaffen. Gingen jetzt noch einmal 700 Krupp-Stellen verloren, läge die Arbeitsplatzbilanz ziemlich genau bei Null. Gegen diese „riesengroße Sauerei, diesen Betrug“, so ein Krupp-Betriebsrat, noch einmal sich aufzulehnen, sind die Rheinhausener aber offenbar zu müde. Zu mehr als einigen kleineren Protestversammlungen reichte es bisher nicht.

Der Pfarrer Dieter Kelp, früher einer der Sprecher des äußerst agilen Rheinhausener Bürgerkomitees, glaubt auch nicht, daß der alte Widerstandswille noch einmal erwachen könnte: „Die lähmende Gemengelage der Republik nimmt Rheinhausen nicht aus. Auch hier ist der Mumm verflogen. Die Leute glauben nicht mehr, durch öffentliches Zusammenstehen etwas verändern zu können.“ Der Pfarrer, der sich mit anderen Aktivisten weiter im während der Streiks entstandenen „Bürgerhaus Hütte“ engagiert, spricht von einer „defätistischen Verdrießlichkeit“, die sich breit mache. Doch irgendwann, hofft Kelp, werde sich der Wind wieder drehen.

Dazu sei allerdings eine politische Kraft erforderlich, „die sich der Wiederherstellung der sozialen Balance verschreibt“. Wem der gebürtige Österreicher diesen Kraftakt zutraut, verrät ein Plakat, das direkt neben dem Talar im Arbeitszimmer des evangelischen Pastors hängt: „Veränderung beginnt mit Opposition – PDS“. Vor der Bundestagswahl standen die Chancen für Kelp nicht schlecht, über die offene Liste der PDS den Sprung in den Bundestag zu schaffen. Doch die Einbürgerung kam zu spät.

Daß sein Name nicht auf dem jüngsten Protestbrief an die Krupp-Unternehmensleitung und an Johannes Rau steht, hat mit dieser Hinwendung zur Gysi-Partei zu tun. Bei einigen führenden Duisburger Sozialdemokraten wie dem Oberbürgermeister Josef Krings oder dem früheren Krupp-Betriebsratsvorsitzenden und jetzigen SPD-Landtagsabgeordneten Manfred Bruckschen, ist der parteilose Kelp unten durch. Was gestern in der Sache noch richtig schien, steht heute unter PDS-Verdacht. Um niemandem Stoff für billige Vorwände zu liefern, hält Kelp sich öffentlich nun ein wenig zurück.

In dem Schreiben beklagen sich die Unterzeichner bitter über das neuerliche „traurige Pokerspiel“ der Krupp-Konzernleitung: „Es mag sein, daß die Unternehmensleitung von Krupp davon ausgeht, ihren Ruf in Rheinhausen nicht mehr verschlechtern zu können und auf ihr öffentliches Image keinen Wert legt. Jedenfalls sind ihre Beiträge zum Strukturwandel in Rheinhausen alles andere als geeignet, die Hoffnung der Bürgerinnen und Bürger auf eine gelingende Zukunft zu stärken.“ Insgesamt, so das Fazit der Briefschreiber, erlebten die Menschen in Rheinhausen „seit Jahren mehr Abbruch als Aufbruch, eher industrielle Verödung statt gezielten Neuaufbau“. Das gilt im übrigen für ganz Duisburg. Die Stadt am Niederrhein leidet unter einem für westdeutsche Städte beispiellosen Arbeitsplatzabbau. Mit 16 Prozent liegt die Arbeitslosigkeit heute höher als beispielsweise in Dresden, Leipzig oder Chemnitz.

Ende Oktober meldete sich der nach dem Rheinhausen-Crash zum obersten Krupp-Hoesch- Konzernchef aufgestiegene Gerhard Cromme bei den Beschwerdeführern. „Aus wirtschaftlichen Gründen“, so ließ Cromme die Briefschreiber wissen, sei die Verkleinerung und Umsiedelung der Krupp-Fördertechnik „zwingend erforderlich“. Die 1988 abgeschlossene Vereinbarung sei im übrigen „vor dem damaligen wirtschaftlichen Hintergrund abgeschlossen“ worden. Doch inzwischen stünden die Unternehmen in Deutschland „vor völlig neuen Herausforderungen“. Dennoch seien bis heute in Rheinhausen „ca. 1.000 Arbeitsplätze erhalten bzw. geschaffen worden“.

Darauf, daß selbst bei seiner Rechnung nach Abzug der 700 Arbeitsplätze der Fördertechnik kaum etwas übrig bleibt, geht Cromme erst gar nicht ein. Statt dessen reicht er den Schwarzen Peter an die Politik weiter. So sei der teilweise Verkauf des Krupp-Geländes – „die ernsthaften Anfragen hätten dazu führen können, die Zahl von 1.500 Arbeitsplätzen zu überschreiten“ – bisher „auf ausdrücklichen Wunsch des Landes Nordrhein-Westfalen und der Stadt Duisburg unterblieben“.

Aus dem Düsseldorfer Wirtschaftsministerium hört man indes eine ganz andere Version. Demnach scheiterte der Kauf des Krupp-Geländes in seiner Gesamtheit bisher an der „völlig überhöhten“ Krupp-Forderung. Rund 200 Millionen Mark will Cromme offenbar für das zum Teil erheblich verseuchte Gelände kassieren. Ob bei der am 15. Dezember geplanten „Duisburg-Konferenz“ die künftige Nutzung des gewaltigen Areals, das die Stadt Rheinhausen seit 1897 vom Rhein trennt, endlich absehbar wird, steht dahin.

Wenn Pfarrer Kelp das Geschacher betrachtet, dann spricht er „von einer gewissen Bitternis“, auch wenn ihm manchmal nach einer deutlicheren Sprache der Sinn stünde. Doch er weiß auch, das Cromme sich derzeit um öffentliche Reaktionen kaum sorgen muß. „Die Bevölkerung“, da trüben keine Wunschvorstellungen seinen Blick, „nimmt weder das eine noch das andere wahr“ – weder die gebrochenen Versprechungen noch die zaghaften Proteste.