Neubestimmung der Achse Berlin-Tokio

Das gewandelte Verständnis der deutsch-japanischen Beziehungen von Altkanzler Schmidt zu Außenminister Kinkel: zwei Grundsatzreden vor unterschiedlichem Publikum  ■ Aus Tokio Georg Blume

Nur der Zufall konnte es wollen, daß am Mittwoch zwei deutsche Politiker, Helmut Schmidt und Klaus Kinkel, zeitgleich vor einem unterschiedlichen japanischen Publikum zu Grundsatzreden über das deutsch-japanische Verhältnis anhoben. Dabei offenbarte sich das ganze Panorama deutscher Außenpolitik. Es reicht vom geschichtslosen Zweckoptimismus des Außenministers bis zum pessimistischen historischen Determinismus des Altbundeskanzlers. Dem einen wie dem anderen diente dabei das Gastgeberland als ideale Projektionsfläche der eigenen Weltsicht: Denn nirgendwo ist das deutsche Verhältnis zu einer anderen Großmacht so vorbelastet durch die Vergangenheit und so frei von Gegenwartssorgen wie gegenüber Japan.

Kinkel nutzte diese Ausgangslage zum bedenkenlosen Brückenschlag: „Unsere Völker fühlen sich seit Generationen zueinander hingezogen. In unseren Gefühlen und Sorgen, in unserer Grundeinstellung sind wir uns näher als viele andere“, sagte der deutsche Außenminister vor der Yomiuri International Economic Society in Tokio. Es klang so, wie man es als Deutscher an jedem gewöhnlichen Sushi-Stammtisch in Japan vernehmen kann. Dort ist in aller Regel viel von angeblich gemeinsamen Sekundärtugenden die Rede, die Kinkel ausdrücklich würdigte: „Hinter diesem Wunder (in Nachkriegs-Japan und -Deutschland) stehen der Fleiß und die Tatkraft unserer Bürger.“ Er hielt sein Publikum an, „auf die Kraft unserer beiden Völker zu vertrauen“.

Daß Kinkel in offizieller Funktion diesen fast prahlerischen Ton wählte, mag seinen Zuhörern entgegen gekommen sein. Der Name „Yomiuri“ steht für die konservative größte Zeitung des Landes, deren erklärtes politisches Ziel es ist, die japanische Friedensverfassung von 1946 so zu ändern, daß Kaiser und Armee wieder eine größere Rolle zukommen. Doch das Bonner Auftrumpfen erklärt sich in Tokio auch aus der jüngsten Geschichte der deutsch-japanischen Beziehungen. Dort hatte man in den letzter Zeit immer häufiger ein Vakuum festgestellt.

Das Problem beider Länder sei, daß es keine Probleme gebe, hatte Exaußenminister Hans-Dietrich Genscher schon vor Jahren doziert und damit das gegenseitige Desinteresse zum politischen Credo erhoben. Hiermit wollte Kinkel in Tokio nun zweifellos brechen. Wobei der Eindruck entstand, als lasse er nicht immer die gebührende Vorsicht walten, die sich für einen deutschen Außenminister gebürt, der die „Achse Berlin-Tokio“ wieder in Bewegung bringen will.

Neunhundert Kilometer weiter, im einst von der Atombombe zerstörten Hiroshima, warnte Deutschlands bislang einflußreichster Japan-Politiker vor solchen Fehltritten: „Keiner unserer Nachbarn hat unsere Verbrechen vergessen. Auch nicht die Juden in aller Welt. Auch nicht die Chinesen, Koreaner, Philippinos oder andere Nachbarn Japans“, erinnerte Exkanzler Schmidt Deutsche und Japaner in seiner Dankesrede für den Erhalt der Ehrendoktorwürde der Universität Hiroshima. Daß Schmidt dieser Titel im 50.Jahr nach Kriegsende verliehen wurde, hängt mit seiner Wahrnehmung durch die japanische Öffentlichkeit zusammen: Hier wird er als Mahner für die gemeinsame Kriegsverantwortung betrachtet, eine Symbolfigur also für Liberale und Linke, die an der Friedensverfassung des Landes festhalten wollen, die jede militärische Anwendung von Gewalt verbietet. Anders als Genscher und nach ihm Kohl hatte sich Schmidt schon als Kanzler für eine starke Beziehung zu Japan eingesetzt. Seinem Einsatz war es mit zu verdanken, daß Japan in den siebziger Jahren in den engsten Kreis der westlichen Industriemächte miteinbezogen wurde. Schmidts Räsonnement baute auch damals auf der Kriegserfahrung beider Länder auf: Deutschland sollte nicht als einzige Verlierermacht am Tisch der Großen Platz nehmen. Damit nahm er die Möglichkeit vorweg, daß Deutschland und Japan eines Tages wieder Seite an Seite innerhalb der westlichen Führungsmächte agieren könnten. Vielleicht bestand Schmidt jetzt in diesem Sinne auf der Abrüstung der fünf Atommächte: „Wir, die nichtatomaren Unterzeichner- Staaten des Atomwaffensperrvertrages wie Japan und Deutschland, haben die Prinzipien der Moral und des Rechts auf unserer Seite“, sagte Schmidt in Hiroshima. Das hört sich bei ihm freilich so an, als könnte ohne die Zusammenarbeit Japans und Deutschlands gegen die Politik der übrigen Großmächte nichts erreicht werden. Insofern vertraut vielleicht auch der ehemalige Bundeskanzler auf die gemeinsame Kraft beider Länder.

Was dabei jemand wie Schmidt nie in den Verdacht käme zu tun, könnte für die Nachfolgegeneration deutscher Politiker eine Leichtigkeit werden: Die Ausklammerung der gemeinsamen Kriegsverbrechen. „Wir haben uns in den mehr als hundert Jahren unserer Beziehung viel gegeben, so sollte es auch in Zukunft sein“, sagte Kinkel in Tokio. Und kein Wort mehr über Juden und andere Nachbarn.