Getrocknete Tausendfüßler

Staulösungen statt Operationen – eine Ausstellung im Völkerkundemuseum zeigt das „ganz andere“ Körperbild der chinesischen Heilkunde  ■ Von Katrin Bettina Müller

Nicht ganz geheuer sieht er aus: Shennong, der legendäre Ahnherr der chinesischen Arzneikunde. Auf einer Zeichnung aus dem 19. oder frühen 20. Jahrhundert sind seine Schultern mit Blättern bedeckt, und mit weit aufgerissenen Augen beißt er auf einen Stengel. Aus Mitleid mit den Kranken „probierte er alle Kräuter und fand an einem Tag siebzig mit Gift“, verrät eine Textquelle aus dem 2. Jahrhundert v. Chr. Nach ihm wurde das erste Arzneibuch Chinas benannt.

Auf 13.000 Schriften, die erst teilweise erforscht sind, kann die chinesische Heilkunde in ihrer über 2.000 Jahre alten Geschichte zurückblicken. Dabei überlagern sich in ihr verschiedene Weltanschauungen und Forschungsergebnisse aufeinanderfolgender Epochen.

Die Ausstellung „Huichun – Rückkehr in den Frühling“ gönnt dem Betrachter auch Schauer des Exotischen: Da sehen wir neben pflanzlichen und mineralischen Grundstoffen der Arzneien auch tierische Rohstoffe (getrocknete Tausendfüßler, geringelte Schlangenhaut, im Paarungsakt gekreuzigte Geckos) und magische Substanzen wie verschlissene Strohmatten gegen Warzen.

Der Schwerpunkt der Dokumentation liegt jedoch auf der Vermittlung eines Körperbildes, das die Ursachen für Krankheiten in Störungen der Umwelt des Patienten suchte. Nicht die anatomische Zergliederung des Körpers stand im Mittelpunkt der Heilkunde, sondern seine harmonische Einbindung in die gesellschaftliche Ordnung.

Einziges Instrument: die Handgelenkstütze

Als Mittler zwischen dem Außen und Innen des Körpers wird das Qi angesehen, dessen Bahnen Organe und Glieder verbinden. Schema- Zeichnungen informieren, wo die teils immateriellen Qi-Dämpfe den Körper durchziehen. Ihre Stauungen zu lösen, die in falscher Ernährung, Umwelteinflüssen oder dem Angriff von Kleinstkörpern ihre Ursache hatten, dienten die Arzneien, die später um die Akupunktur ergänzt wurden. Erst in der Han-Zeit, als mit der Reichseinigung die kulturellen Zentren Chinas durch Kanäle verbunden wurden, stellte man sich die Qi- Gefäße als Kreislauf vor.

Anders als die westliche Medizin griff die chinesische Heilkunde nicht in den Körper ein. Das einzige Instrument der Diagnose blieb deshalb fast ein Jahrtausend lang die Handgelenkstütze, die das Pulsfühlen erleichterte. Daneben beobachtete der Arzt die Stimmlage, den Geruch und die Farbe der Haut des Patienten und fragte ihn nach seinem Tagesablauf.

Das ganzheitliche Denken spiegelt sich auch in den poetischen Namen der Apotheken: „Rückkehr in den Frühling“ oder „Vollkommene Tugend“. Mit den prachtvollen Ladenschildern aber baut die Ausstellung zugleich einer esoterischen Verklärung der chinesischen Heilkunde vor. Denn die Schilder dokumentieren ebenso wie Hunderte von kleinen Porzellanfläschchen die erfolgreichen Vermarktungsstrategien der Apotheken seit dem 10. Jahrhundert.

Die speziellen Abgabegefäße, bemalt mit Blumen, Landschaften, Drachen und erotischen Szenen, dienten als Markenzeichen. Daß sie dabei zum eleganten Schmuck der höfischen Kultur wurden, belegt eine Reiseapotheke mit Aphrodisiaka aus dem 19. Jahrhundert. „Pulver, das die Soldaten zum Laufen bringt“, ist sie beschriftet.

Mitte des 19. Jahrhunderts begann die Abwertung der chinesischen Heilkunde durch die westliche Medizin, die mit der Kulturrevolution verordnet wurde. Doch im Untergrund existierten die traditionellen Therapien weiter, zu Rate gezogen, wenn die Krankenhäuser versagten oder nicht zu erreichen waren.

Die seit den siebziger Jahren versuchte Integration beider Ansätze leidet bisher an der mangelnden Erforschung der überlieferten Rezepte und ihrer Funktionen.

Die Ausstellung „Huichung – Rückkehr in den Frühling“ ist noch bis 2. 6. 1996 zu sehen, Dienstag bis Freitag 9–17 Uhr, Samstag und Sonntag 10–17 Uhr, im Museum für Völkerkunde, Lansstraße 8, Dahlem