Der Gerichtshof soll schweigen

Die Atommächte versuchen, ein Gutachten des Internationalen Gerichtshofes über Atomwaffen und Völkerrecht zu verhindern  ■ Aus Den Haag Hermann-Josef Tenhagen

Die deutsche Bundesregierung hat den Internationalen Gerichtshof (IGH) gestern aufgefordert, sich nicht mit der völkerrechtlichen Zulässigkeit des Einsatzes von Atomwaffen zu beschäftigen. Damit schließt sich die Bundesregierung den Versuchen der Atommächte an, das Verfahren in Den Haag doch noch zu verhindern. Die deutsche Argumentation: Eine Stellungnahme des Gerichtes, so Hartmut Hillgenberg, Chefjurist des Auswärtigen Amtes, wäre in jedem Fall politisch, nicht juristisch. Sie würde durch ihre Eindeutigkeit den sensiblen, schrittweisen Abrüstungsprozeß gefährden, müßte „spekulative Annahmen“ über Atomkriegsszenarien treffen und würde letztlich dem Ansehen des Gerichtshofs als unparteiischem Organ der Vereinten Nationen schaden.

Über 20 Staaten wollen bis Ende kommender Woche den Richtern des IGH im Den Haager Friedenspalais ihre Auffassung über die völkerrechtliche Zulässigkeit der Drohung mit und des Einsatzes von Atomwaffen darstellen. Die Stellungnahme des Gerichtshofs könnte Anfang 1996 erfolgen.

Das Verfahren ist für die Atommächte eine neue Herausforderung, besonders angenehm ist sie nicht. Kein Wunder, daß sie nun versuchen, den Gerichtshof davon abzubringen, sich überhaupt zu den völkerrechtlichen Problemen der Atomwaffen zu äußern. Frankreichs Delegierter Marc Perrin de Brichambaut formulierte gar an die Adresse der Richter: „Ich warne Sie vor jeder Formel, die nach einer Bewertung von Verteidigungsstrategien aussieht.“ Der Gerichtshof würde den eigenen Zuständigkeitsbereich verlassen und seine Legitimation verspielen.

Daß in Den Haag trotz solcher Drohungen verhandelt wird, geht auf einen gemeinsamen Anlauf der atomwaffenfreien Staaten des Südens und auf viel Arbeit von regierungsunabhängigen Organisationen zurück. Im Mai 1993 entschied die Vollversammlung der Weltgesundheitsorganisation (WHO), daß zur Gesundheitsvorsorge auch die Verhinderung eines großen Krieges gehöre. „Gegen die gesundheitlichen und ökologischen Folgen von Atomwaffen hilft nichts als primäre Prävention“, urteilten die WHO- Vertreter damals. Für solche Prävention aber brauche es endlich Klarheit über den Status der Atomwaffen – und so forderte die WHO ein Gutachten beim IGH an, ob „im Lichte der gesundheitlichen und ökologischen Folgen der Einsatz von Atomwaffen nicht völkerrechtswidrig“ sei. Die Atommächte und auch die Bundesrepublik beschuldigen die WHO seither, ihre Kompetenz exzessiv auszulegen, und verlangten vom Gericht schon 1994, die Frage einfach nicht zu beantworten.

Es kam anders. Statt mit einer muß sich das Gericht nun mit zwei Fragen auseinandersetzen, nachdem die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Fragestellung im Dezember 1994 noch erweiterte: Sie will, daß der Gerichtshof auch prüft, ob nicht schon die Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen mit dem Völkerrecht unvereinbar ist. Das ist schon schwerer abzubügeln: Noch nie hat der Gerichtshof der UN-Generalversammlung die Bitte um ein Gutachten negativ beschieden. Die Atommächte und Industriestaaten kämpfen so erbittert für ein Schweigen des Gerichts, weil eigentlich jede denkbare Stellungnahme gegen die Atomwaffenarsenale ausfallen muß. Und es ist auch nicht leicht zu argumentieren: Gestern etwa forderte der US- amerikanische IGH-Richter Stephen Schwebel die französische und andere Delegationen auf, Beweise für ihre Behauptung beizubringen, daß Atomwaffen in Europa 40 Jahre den Frieden erhalten hätten. Die Antwort wollen Franzosen und Deutsche dem Vernehmen nach miteinander abstimmen.

Aber selbst im eigenen Lager wackelt die Unterstützung für die fünf Atommächte. Das zeigte die Argumentation der australischen Regierung vor Gericht. Zwar forderte Australien den IGH auf, das Thema aus formalen Gründen fallenzulassen. Doch dann führte Außenminister Gareth Evans aus, daß „Atomwaffen ihrer Natur nach völkerrechtlich illegal sind, sie verletzen die fundamentalen Prinzipien der Humanität. Es ist nicht nur illegal, sie einzusetzen oder ihren Einsatz anzudrohen, auch sie zu erwerben, zu entwickeln, zu testen und zu besitzen ist illegal. Selbst das Recht von Staaten auf Selbstverteidigung kann dafür nicht angeführt werden.“ Für Robert Green vom World Court Projekt, einem Zusammenschluß von Atomwaffengegnern, ist die Angst der Atommächte vor einem Spruch des IGH verständlich. Denn er ist sich sicher, das Gericht könne gar nicht feststellen, daß jeder Einsatz von Atomwaffen per se mit dem Völkerrecht übereinstimmt: „Atomwaffen können bei ihrer Wirkung nicht zwischen Soldaten und Zivilisten unterscheiden und verletzen schon deswegen das Kriegsvölkerrecht, das diese Unterscheidung verlangt.“ Selbst jede vom Gericht formulierte Einschränkung der Einsatzmöglichkeiten führe aber bei den Atomwaffenstaaten zu erheblichen Legitimationschwierigkeiten.

Tatsächlich hatte gerade Frankreich vor Gericht betont, „eine Einschränkung der nationalen Souveränität durch das Gericht wird nicht hingenommen.“ Erst am vergangenen Wochenende hatten sich Großbritannien und Frankreich auf eine Zukunft mit Atomwaffen und eine neue atomare Kanonenbootpolitik geeinigt. „Substrategische Abschreckung“ ist das gemeinsame Stichwort von Staatspräsident Jacques Chirac und Premierminister John Major für „atomare Warnschüsse“ gegen potentielle Feinde, die die Interessen der beiden Staaten tangierten. Derweil orakeln BeobachterInnen über Folgen der Zusammensetzung des Gerichtshofes. „Fünf RichterInnen stammen aus Atomwaffenstaaten, vier Richter aus der Dritten Welt und der japanische Richter gelten als Pro-Gutachten-Stimmen“, zählt Green. Bleiben ein Deutscher, ein Italiener, ein Ungar und der algerische Vorsitzende, der bei einem Patt eine zweite Stimme hat. Es wird knapp für die Atomstaaten.