Spießrutenlauf in der Provinz

■ Am Sonntag sind Präsidentschaftswahlen in Polen. Lech Walesas Wiederwahl ist nicht sicher - der Wahlkampf gegen die Exkommunisten ist hart Aus Warschau Gabriele Lesser

Spießrutenlauf in der Provinz

„Herr Präsident!“ Die Stimme des Volksschullehrers bebt vor Wut und Enttäuschung: „Ist es wirklich wahr, daß Sie auf die Arbeiter schießen lassen wollen?“ Die 2.000 Menschen in der Sporthalle von Belchatw halten den Atem an. Lech Walesa, der durch die Provinzen Polens tourt, um Stimmen für seine zweite Amtszeit als Präsident zu gewinnen, wischt sich über die Stirn: „Liebe Landsleute“, hebt er leicht entnervt, aber besänftigend an, „wie könnt ihr so etwas denken? Ich bin doch euer Landesvater. Ich werde doch nicht auf euch schießen lassen!“

Vor zwei Wochen erschien in der einflußreichen Tageszeitung Gazeta Wyborcza ein Interview, in dem Herausgeber Adam Michnik – ein früherer Duzfreund Walesas und heute sein härtester Kritiker – den Präsidenten klassisch aufs Kreuz legte. Eine Auffrischung der alten Freundschaft, so dachte Walesa, sollte das Gespräch sein. „Wir haben locker geredet wie in alten Zeiten“, versuchte er den ArbeiterInnen zu erklären. Er habe Michnik erläutert, daß Polen einen starken Präsidenten brauche, einen Mann, der sowohl bei den Russen als auch bei der Nato mit der Faust auf den Tisch hauen könne. Michnik, der bereits vor fünf Jahren eine Kampagne gegen Walesa gestartet hatte, stellte ihm eine Fangfrage: Ob er im Falle einer Wahlniederlage bei eventuellen Massenstreiks, die zu einem Staatsstreich führen könnten, nicht zu Mitteln greifen würde, die außerhalb der Verfasssung liegen? Walesas umstrittene Antwort: „Wenn die Lage schwieriger und schwieriger wird und niemand mehr in der Lage ist, bestimmte Entwicklungen abzubremsen, mußt du schießen. Alles, was ich tue, tue ich für das Wohl des Vaterlandes.“ Ohne Autorisierung druckte Michnik diese Aussage ab.

„Ich hätte sie mit Sicherheit zurückgezogen“, versucht der Präsident Polens die ArbeiterInnen zu überzeugen. Als ein Bild der Stärke sei das zu verstehen, so Walesa. Er habe Michnik klarmachen wollen, daß nur er, Walesa, der Garant für die Fortdauer des demokratischen Prozesses sei. Kwasniewski, der Kandidat der Exkommunisten und heutigen Sozialdemokraten, werde bei der geringsten Krise vor den Russen in die Knie gehen. Und auf Hanna Gronkiewicz-Waltz, die Notenbankpräsidentin, die ebenfalls nach dem höchsten Amt im Staate greift, könne man nicht zählen: „Sie ist in erster Linie mit Lippenstift und Friseurbesuchen beschäftigt.“ Der derbe Machowitz kommt bei den ArbeiterInnen nicht an. Und fast niemand versteht die Metapher vom starken Mann. „Wenn Walesa sagt, daß er auf die Arbeiter schießen will, dann tut er das auch“, murmelt ein hünenhafter Bergmann. „So einen Banditen wähle ich doch nicht!“

In Belchatw, einem Braunkohlestädtchen unweit von Breslau, hat Walesa schlechte Karten. Schon einmal, in der Präsidentschaftswahl vor fünf Jahren, hat er hier eine Niederlage erlitten. Die EinwohnerInnen hatten Stanislaw Tyminski, einen windigen Geschäftsmann aus Kanada, dem ehemaligen Arbeiterführer vorgezogen. Der hatte ihnen das Blaue vom Himmel versprochen, das Wunder eines „Reichtums für alle“. Auf dieses Wunder warten die Menschen noch heute. Es ist ihnen egal, ob das politische System Demokratie oder Realsozialismus heißt. Sie sind enttäuscht, daß der Wandel, den schließlich sie erkämpft haben, ihnen nicht auch wirtschaftlich zugute kommt. Zwar brachte die Marktwirtschaft Bananen und Orangen ins Land, die Regale füllten sich. Doch der neue Reichtum hatte seinen Preis. Unrentable Staatsbetriebe gingen pleite, Hunderttausende verloren ihre Arbeit.

Die Leute reißen sich das Mikrofon aus der Hand. „Ich bekomme eine Rente von 2 Millionen Zloty im Monat (knapp 120 Mark). Davon kann ich doch nicht leben! Wie, Herr Präsident, können Sie das zulassen?“ empört sich eine ehemalige Garderobenfrau. „Ich arbeite. Trotzdem reicht das Geld nicht. Die Steuer frißt alles auf!“ Walesa kann kaum an sich halten: „Leute!“ unterbricht er die Arbeiter, „ich bin euer Präsident! Ich kann nicht jeden Morgen vorbeikommen und jedem ein belegtes Brötchen durchs Fenster werfen.“ Er hebt ein blaues Buch in die Höhe: „Ich habe alles aufgeschrieben, was ich während meiner Amtszeit geleistet habe. Für Polen, für euch! Es war harte Arbeit.“

In der Turnhalle, deren Tristesse nur von Solidarność-Plakaten durchbrochen wird, interessiert das niemanden. „Herr Präsident!“ Vor dem Mikrofon steht wieder ein zorniger Bergmann: „Wenn Sie sagen, daß Sie uns nicht helfen können, daß Ihnen rechtlich die Hände gebunden sind, warum sollen wir Sie dann wählen?“ Walesa scheint fast der Kragen zu platzen: „Ich kann doch nicht alles, was wir erkämpft haben, einfach verloren geben. Aber ich muß mich an die Spielregeln der Demokratie halten. Habe ich etwa die Regierung gewählt? Ihr habt sie gewählt! Das ist die richtige Adresse. Da müßt ihr euch für die hohen Steuern und die niedrigen Renten bedanken. Oder soll ich für euch das Recht brechen? Soll ich das Kriegsrecht ausrufen? Wollt ihr einen Verbrecher zum Präsidenten?“ Ein alte Frau mit Kapotthütchen greift nach dem Mikrofon. Tief, volltönend und aufbegehrend dröhnt es aus den Lautsprechern: „Wir haben unser Blut gegeben für Polen, unser Vaterland! Wo ist das Geld geblieben, das wir erarbeitet haben? Warum sind unsere Kinder und Enkel arbeitslos? Ist das die Demokratie?“ Walesa schweigt, läßt die Stimme nachhallen, schlägt sich mit der flachen Hand auf die Brust und bekennt: „Ich habe Fehler gemacht. Ich bin auch nur ein Mensch. Aber ich lerne daraus. Ihr habt mich vor fünf Jahren zu eurem Präsidenten gewählt. Aber mein Werk ist noch nicht vollendet. Wie kann ich ein Land, das fünfzig Jahre Kommunismus auf dem Buckel hat, in nur fünf Jahren kurieren? Wir müssen uns gegenseitig helfen. So wie vor fünfzehn Jahren, als alles mit Solidarność begann.“

Unvermittelt steht der Pressesprecher Walesas auf und stimmt die Nationalhymne an. Die Veranstaltung ist zu Ende, 2.000 Menschen erheben sich und singen mit. In die verklingenden Töne dringt noch einmal die Stimme der alten Frau. Verzweifelt und triumphierend hängt der Schrei in der Luft: „Es lebe Lech Walesa!“