Molkerei in Tschernobyl

■ Gefährlicher Poker um die Schließung der Atomruine

Es ist eine unendliche Geschichte. Ohne Happy-End. Seit Jahren begleitet die G 7-Länder auf ihren Treffen das immer gleiche brisante Thema: die Reaktorruinen von Tschernobyl. „Die Schließung des Kernkraftwerks hat höchste Priorität“, bekundeten die sieben Reichen gebetsmühlenhaft immer wieder. In München, in Neapel, in Halifax. Doch mit feurigen Erklärungen läßt sich kein Atommeiler dichtmachen. Wenn's ans Portemonnaie geht, dann sind die Flammen schnell erloschen.

Es zeigt sich die beeindruckende Konstellation des nackten Egoismus. Je dichter die jeweiligen Länder Richtung Ukraine liegen – und im Falle einer erneuten Katastrophe bedroht wären –, desto größer ist ihre Bereitschaft, für die Stillegung zu spendieren. Die europäischen Atomländer Frankreich und die Bundesrepublik, die zusammen mehr als 70 Reaktoren betreiben, wollen außerdem mehr bezahlen, weil sie um ihre eigene Nuklearindustrie zittern. Ein zweites Tschernobyl würde die strahlende Zunft im Westen nicht überleben. John Major weiß dagegen, daß sein Inselreich erstens von der Ukraine ziemlich weit weg und seine Atomwirtschaft zweitens ohnehin ruiniert ist. Für Bill Clinton gilt dasselbe. Auch Kanada, Japan und Italien haben nur geringes Interesse. So wird denn seit Jahren gepokert und gefeilscht und verschleppt, als ginge es um die Schließung einer Molkerei.

Die Position der Ukraine macht die Sache nicht eben leichter. Der Schrotthaufen der beiden noch laufenden Tschernobyl-Reaktoren wird ungeniert als Faustpfand zur Erpressung benutzt, immer neue Zeitpläne und Summen werden serviert. Getreu der zynischen Devise: „Wir haben kein Problem mit Tschernobyl, ihr habt es.“

Bei den jetzt laufenden Verhandlungen in Kiew haben die G 7-Länder ihr Angebot auf 3,2 Milliarden Mark erhöht. Doch Kiew nennt Folgekosten der Schließung von sechs Milliarden Mark. Die drei Milliarden werden der Ukraine also nicht reichen, und so wird denn als „Kompromiß“ vermutlich eine Projektstudie auf den Weg gebracht, um die tatsächlichen Kosten zu ermitteln. Das dauert. Und dauert. Die gefährlichste Industrieanlage dieser Welt geht damit in den zehnten Winter. Die Weltgemeinschaft sieht zu und macht Kostenstudien.

„Die Eltern kleiner Kinder sollten schon mal unbelastetes Milchpulver bunkern“, empfahl die taz-Kommentatorin beim letzten Mal. Die Empfehlung bleibt weiter gültig. Manfred Kriener