Zukunft Bremen
: Blinde sollen sehen

■ Mikrosystemtechnik-Euphorie tagt : Achte Bremer Universitätsgespräche

„Mikrosystemtechnik wird die Schlüsseltechnologie des 21. Jahrhunderts!“ So jedenfalls sah es Prof. Joseph Binder auf den diesjährigen „8. Bremer Universitätsgesprächen“. Die Gespräche beschäftigen sich jedes Jahr in der ersten Novemberwoche mit einem gesellschaftlich wichtigen Thema. Dieses Jahr gab Binders Bremer „Institut für Mikrosensoren, –aktuatoren und –systeme“ (IMSAS) das Thema für die Gespräche vor: Mikrosystemtechnik. Woraus Kinder im Sommer Sandburgen bauen, entwickelt das Institut um Binder Hightech-Produkte: Quarzsand ist der Stoff, aus dem das Institut fingergroße Geräte entwickelt. Sie besitzen Sensoren, um Daten aus ihrer Umgebung zu sammeln und „Aktuatoren“, um gezielt mit einer Aktion in ihre Umwelt einzugreifen. Prominentes Beispiel: Der Airbag im Auto wird von einem entsprechenden Gerät aktiviert. Nur empfindliche Mikrosysteme erreichen die Reaktionsgeschwindigkeit, die nötig ist, um bei einem Unfall den Fahrer vor dem drohenden Aufprall auf dem Lenkrad rechtzeitig mit einem weichgefüllten Luftkissen aufzufangen. Doch dies ist erst der Anfang der möglichen Entwicklungen in der Mikrosystemtechnik.

Binders Institut arbeitet derzeit an einem medizinischen Analysegerät für Patienten mit schweren, körperbedeckenden Brandwunden. Der Zustand dieser Patienten kann nur schwer erfaßt werden. Geräte zur Überwachung werden oft nicht eingesetzt, da sie bei Berührung mit dem Patienten Infektionen verursachen können. Daher entwickelt das Bremer Institut gemeinsam mit Gert Muhr, Direktor der Chirurgie an der Universitätsklinik Bochum, an einem Verfahren, das die verbrannte Haut des Patienten nicht berührt: Ein kleines Gerät soll in das Innere des Patienten eingepfanzt werden und soll von dort über Funk Daten liefern, die Auskunft über den Zustand des Patienten geben. Dazu braucht man einen miniaturisierten Sender und winzige Sensoren, die zum Beispiel den Blutdruck des Patienten und den Sauerstoffgehalt des Blutes messen und an einen Empfänger außerhalb des Körpers übermitteln. Doch die Visionen des Mediziners Muhr gehen weit darüber hinaus: Elektronische Systeme sollen im nächsten Jahrhundert beschädigte Nerven und Sinnesorgane ersetzen, damit Gelähmte wieder gehen können und blinde mit künstlichen Augen wieder sehen können. Dem Techniker Binder vom IMSAS fallen auch bescheidenere Ziele ein: Telefone sollen in die Armbanduhr integriert werden.

Auch Klaus Weyrich, Entwicklungschef bei Siemens ist zu den Universitätsgesprächen an die Weser geeilt. Er sagte, das es zwar Mühe gemacht habe, in der Mikroelektronik den Entwicklungsrückstand zu Japan und den USA zu verkraften. „Bei der Mikrosystemtechnik werden die Karten jedoch noch gemischt.“ Derjenige werde die Nase vorn haben, dem es als erstem gelänge, ein kostengünstiges Angebot für den breiten Markt zu entwickeln. Dazu Horst Forster von der Europäischen Kommission in Brüssel: Als nächstes muß in Europa ein Angebot geschaffen werden, woran auch in Bremen gearbeitet wird. Mittelständische Betriebe müssen die Möglichkeit erhalten, ihre Ideen in der Mikrosystemtechnik in kleinen Stückzahlen kostengünstig zu verwirklichen. Bremen wurde dafür allerdings nicht als Standort ins Auge gefaßt. Bosch steht als ausführende Firma bereits fest.

Mit 17 Millionen Mark hat das Bundesministerium für Forschung und Technologie das Bremer IMSAS-Institut unterstützt. Ein Großteil davon wurde für die Installation von sogenannten „Reinräumen“ ausgegeben, in denen staubfreie Luft die winzigen Geräte vor Verschmutzungen schützt. Keine andere Universität in der Bundesrepublik verfügt bisher über eine vergleichbare Einrichtung. aw