Eine zerstörerische Kulisse

Der Bild-Text-Band „Spandauer Vorstadt“ beschreibt erstmals die Ambivalenz zwischen der Entdeckung eines Viertels und der Zerstörung durch Entdeckung  ■ Von Uwe Rada

Selten wurde die Neugier auf unbekannte Stadtlandschaften mit so einfachen Worten beschrieben: „An den Mathematiktagen fühlte ich mich einfach krank“, erinnert sich Charlotte von Mahlsdorf, „und so erkundete ich lieber Berlin und schwänzte die Schule.“ Ein Unterfangen, das mitunter schmerzhafte Folgen nach sich zog. Da Charlotte ihrem Studienrat „wirklich nicht plausibel machen konnte, daß die Erforschung der Stadtteile von Berlin wichtiger sei als der Mathematikunterricht“, setzte es „hin und wieder“ auch den Rohrstock auf den Hintern.

In die Gegend um den Hackeschen Markt kam Charlotte von Mahlsdorf alias Lothar Berfelde als Siebenjähriger. Das war 1935. Heute sind es andere, die sich der „Erforschung“ des Viertels widmen: Anwohner, Initiativen, aber auch Grundstücksdealer und alternative Glücksritter, denen die schnelle Mark wichtiger ist als ein behutsamer Umgang mit einem gewachsenen Quartier.

Diese Ambivalenz – Entdeckung und Zerstörung durch Entdeckung – zieht sich wie ein Leitmotiv durch die Beiträge des soeben erschienenen Bild-Text-Bandes „Spandauer Vorstadt“. Zum Beispiel in den Erinnerungen von Ursula Wünsch: Seit 1971 betreibt sie einen Spielzeugladen in der Mulackstraße. Vor der Wende, erinnert sie sich, habe keiner vom Scheunenviertel oder der Spandauer Vorstadt gesprochen. Vor der Wende war die Gegend „auf Abbruch“. Heute steht die Spandauer Vorstadt „auf Sanierung“. Und die hat ihren Preis. Durch die Erneuerung, meint Ursula Wünsch, „werden über Jahrzehnte gewachsene Strukturen systematisch zerstört“.

Über die Spandauer Vorstadt, mehr aber noch über das „Scheunenviertel“ (der Name stammt übrigens von den Nazis) ist in den letzten Jahren viel geschrieben worden. Der viel zitierte Genius loci, der oft widersprüchliche Geist des Ortes, blieb dabei auf der Strecke. Das vorliegende Buch vereinigt nun erstmals eine Textsammlung, die in ihrer Vielschichtigkeit diesem Geist, der dichten, oft aber auch beliebigen Atmosphäre des Ortes, nahe kommt. Romantisch ist das dann nicht mehr. Der Alltag in der „Altstadt Berlins“ besteht vielmehr aus geglückten und mißlungenen Immobilienspekulationen, dem Galerienboom in der Auguststraße mitsamt den sozialen Folgekosten oder dem Treiben in der „geilen Meile“ Oranienburger, in der – wie weiland in der Friedrichstraße – die Kleinstadtjugend aus Wanne- Eickel oder Löbau tonangebend ist. Daß das vormalige „Nebeneinander von Boheme, Bordell und Betstube“ zum Mythos geschwätzt wurde, ist nicht zuletzt das Ergebnis zahlloser Stadtspaziergänge. Das eigentliche Problem aber sieht André Meier zum Ende des Buches in einer „Schmähschrift gegen den Mythos Scheunenviertel“ darin, daß dieses Klischee seit dem Mauerfall „mit einer derartigen Penetranz beschworen (wird), daß der Realität nichts anderes übrig bleibt, als sich zu fügen“.

Eine andere, eine ungefügige Realität kann freilich auch ein Buch nicht beschwören. Und eine neue „Bürgerinitiative Spandauer Vorstadt“, die das Viertel nicht nur vor dem Abriß rettet, sondern vor dem Bau zerstörerischer Kulissen, ist noch nicht in Sicht.

„Die Spandauer Vorstadt“. Argon Verlag, 138 S., 49,80 Mark