Steine, die sehen

■ Der ORB hat nach jüdischen Spuren im Land Brandenburg gesucht und zeigt eine Filmreihe zur "Israelischen Woche"

Der Anhalter Bahnhof in Berlin ist nur noch eine Ruine. Gemähter Rasen steht, wo einmal die Empfangshalle war, drumherum braust der Verkehr. Wenn Jizchak Schwersenz vor diesen Restmauern steht, wird alles wieder lebendig. Das eisige Licht, der Kommandoton der Gestapo-Patrouille, der Jizchak Schwersenz seinen gefälschten Wehrmachtpaß hinhält. „Diese Steine haben mich gesehen“, sagt Schwersenz in die Kamera und berührt einen der Zierklinker an der Bahnhofsruine. Heute zittern seine Hände, die still geblieben sind, damals, 1944, als sie den Paß hielten, als Jizchak Schwersenz die Flucht gelang, nach Jahren des Untertauchens im nationalsozialistischen Berlin.

Wie viele Dokumentationen über die Judenvernichtung hat das Fernsehen schon gesehen? Wie oft haben sich Zusammenschnitte aus Interviews, historischen Schnipseln, Kommentaren im Dunst des Gutgemeinten versendet? Und auf wie stille Weise schafft es dann plötzlich ein Porträt, in dem bloß ein alter Herr durch eine Stadt schreitet und einfach nur erzählt, ohne Sentimentalität und ohne Beschwörungsgeklimper aus dem Off, wie leicht gelingt es so einem kleinen Film, das Leben zwischen diesen Steinen, die immer noch stehen, begreifbar zu machen.

Nicht alle Beiträge der ORB- Reihe haben die Qualität von Sabine Grote Mieders Film „Karten für Fidelio“ (Sonntag, 22.20 Uhr). Anstatt den versprochenen „Spuren jüdischen Lebens“ nachzugehen, hüpft etwa der Rheinsberg- Film (Sonntag, 22.05 Uhr) ein bißchen uninspiriert zwischen Schloßromantik, Tucholsky-Bio und „Jugend heute“ herum, wo seltsamerweise immer irgendwelche Lehramtsstudentenpärchen ins Bild laufen und sich keusch die Händchen patschen.

An jedem Abend der kommenden Woche betreibt der Sender an einem Ort in Brandenburg Spurensuche. Gelungen ist das zum Beispiel in Beelitz, wo Sieglinde Scholz-Amoulong die Geschichte eines jüdischen Kinderheims sensibel nachzeichnet. Die jüdische Woche soll ein Beitrag zu der offiziellen Israelischen Woche sein, in der es gerade um die Gegenwart gehen soll. Leider rauscht zur Eröffnung heute abend ein „Länderporträt“ an derselben exakt vorbei: Das ORB-Team ist einfach überall da hingefahren, wo die Busse von Studiosus-Reisen auch immer halten.

Dabei hat der Sender am Sonntag abend einen israelischen Spielfilm im Programm, der die israelische Gegenwart mit solch beklemmender Schonungslosigkeit zu konzentrieren weiß, daß einem mehr als die perpetuierten Klischees um die Ohren fliegt.

Assi Dayans irritierende Nachtaufnahme „Life according to Agfa“ zeigt eine Gesellschaft am Rande des Zusammenbruchs, zeigt Gewalt, Lüge, Jugend, Stadt. Da sieht man, daß aus dem Gelobten Land mehr kommt als biblische Mythen: großes internationales Kino. Und das kann dem, der sehen will, auch viel über „jüdische Wurzeln“ erzählen. Lutz Meier