■ „Vergangenheitsbewältigung“ in Südafrika
: Wahrheit oder Gerechtigkeit?

Der Gerichtstermin glich einer Vorstellung in einem Gruselkabinett. Elf ehemalige Generäle und hohe Militärs, darunter der langjährige Verteidigungsminister Magnus Malan, mußten am Donnerstag vor einem südafrikanischen Gericht erscheinen.

Dreizehnfacher Mord an meist wehrlosen Frauen und Kindern in einem Township in der Provinz Kwa Zulu/Natal im Jahr 1987 wird ihnen vorgeworfen. Der Anschlag galt eigentlich einem Aktivisten der Befreiungsbewegung „Vereinigte Demokratische Front“. Der aber war nicht zu Hause, statt dessen wurde seine gesamte Familie von sogenannten Hitsquads erschossen. Der Gerichtstermin war nach südafrikanischem Recht eine Formalie. Am vergangenen Wochenende hatte der Generalstaatsanwalt von Kwa Zulu/Natal den elf Männern überraschend Haftbefehle zustellen lassen. Nach südafrikanischem Strafrecht kommen sie selbst bei einer so schweren Anklage nicht in Untersuchungshaft, sondern müssen einmal vor Gericht erscheinen und werden dann auf Kaution wieder entlassen – so auch in diesem Fall.

Ab 1. Dezember wird den Herren Generälen a.D. dann der Prozeß gemacht, und das birgt politischen Sprengstoff. Schon daß die Haftbefehle wenige Tage vor den ersten demokratischen Kommunalwahlen in Südafrika erlassen wurden, hat die öffentliche Debatte angeheizt. Doch die Aufregung geht viel tiefer. Nicht umsonst reagierte das burische Establishment mit Entsetzen, nicht umsonst tauchten plötzlich die weißen Rechtsextremen wieder aus der Versenkung auf. Denn mit der Mordanklage gegen namhafte Mitglieder des alten weißen Staatsapparates sind all die schwierigen Fragen aufgeworfen, die um die Aufarbeitung der südafrikanischen Vergangenheit kreisen.

Südafrikas weitgehend friedlicher Übergang zur Demokratie war nur möglich, weil noch vor den ersten freien Wahlen zwischen alten und neuen Machthabern ein moralisch wie juristisch fragiler Kompromiß ausgehandelt wurde. In den Verhandlungen einigte man sich darauf, daß politische Straftäter aus der Apartheidzeit unter bestimmten Bedingungen nicht strafrechtlich verfolgt werden sollten. Nach den Wahlen sollte eine Kommission eingesetzt werden, die sich mit der schwierigen Aufklärung der Vergangenheit zu beschäftigen haben würde. Wer vor ihr (freiwillig) aussagt, kann für politische Verbrechen Amnestie beantragen und wird für diese, und nur für diese, Verbrechen nicht strafrechtlich verfolgt. Die Wahrheitskommission wird, ob sie das will oder nicht, zur moralischen und juristischen Instanz Nummer eins in Südafrika werden; sie wird zu entscheiden haben, wann ein Verbrechen ein politisches war oder nur etwa nackter Mord. Gelingen oder Scheitern dieses Versuchs hängt davon ab, wer die Mitglieder der Kommission sind. Deshalb auch verzögert sich die Aufstellung der Kandidaten.

Mit diesem Verfahren wählte Südafrika einen völlig anderen Weg als die alte Bundesrepublik im Umgang mit der NS-Vergangenheit und das wiedervereinigte Deutschland mit der Stasi und DDR-Regierungskriminalität. Um es auf eine einfache Formel zu bringen: Wahrheit (und Entschädigung) sollen in Südafrika vor Gerechtigkeit gehen.

Doch nur auf den Edelmut und die Fähigkeit zur Schuldbekennung der ehemaligen weißen Machthaber will man sich auch im neuen Südafrika lieber nicht verlassen. Der letzte weiße Präsident de Klerk läßt keine Gelegenheit aus, um zu beteuern, daß die Hände der Nationalen Partei rein sind. Dabei gibt es immer mehr erdrückende Beweise, daß die These von der Existenz einer Third Force richtig ist. Noch während seiner Amtszeit mußte de Klerk auf öffentlichen Druck hin eine unabhängige Untersuchungskommission unter Vorsitz von Richard Goldstone einsetzen, die politische Gewalt vor allem in Kwa Zulu/Natal untersuchen sollte und Erschreckendes zutage förderte. Mitglieder des weißen Sicherheitsapparates wurden belastet, mit Inkatha zusammengearbeitet und „Todesschwadrone“ ausgebildet zu haben, die politische Gegner erbarmungslos umbrachten.

Nach dem Machtwechsel wurde eine Sonderermittlungseinheit der Polizei gebildet, auf deren Ermittlungen die jetzigen Anklagen zurückgehen. Zum ersten Mal werden durch sie führende Generäle und ein ehemaliges Regierungsmitglied schwer belastet. Die ANC-geführte Regierung ist entschlossen, ihnen den Prozeß zu machen. Mehr noch: Sicherheitsminister Sidney Mufamadi (ANC) kündigte nach dem Gerichtstermin an, sollte es für den Prozeß notwendig sein, auch de Klerk und Inkatha- Chef Mangosuthu Buthelezi vor Gericht zu bringen. Wenn die Nationale Partei sich jetzt empört, diese Haltung weiche von der Versöhnungsstrategie ab und gefährde das friedliche multirassische Zusammenleben, klingt das schön.

Nur: Sie selber hat bislang durch nichts zu erkennen gegeben, wirklich an einer Aufklärung der Vergangenheit interessiert zu sein. Im Gegenteil. De Klerk geißelt die Wahrheitskommission, noch ehe sie ihre Arbeit überhaupt aufgenommen hat, unablässig als ein Mittel zum Zweck der Hexenjagd und bestreitet bis heute das Bestehen einer Third Force. Und auch Malan und seine Mitangeklagten zeigen sich unangekränkelt von jeglichem Schuldbewußtsein. Der Exverteidigungsminister schreckte nicht einmal vor der Peinlichkeit zurück, die Anklage als schwärzeste Stunde für Südafrikas Demokratie zu bezeichnen.

Auch wenn der verantwortliche Staatsanwalt McNally am Freitag erneut jegliche politische Einflußnahme bei der Anklageerhebung von sich gewiesen hat, ist das Verfahren schon jetzt kein einfaches strafrechtliches mehr. Das Kalkül der Regierung ist klar: Durch die Anklage sollen Malan und die anderen gezwungen werden, vor die Wahrheitskommission zu gehen. Dann können sie einer möglichen Verurteilung entgehen – vorausgesetzt, sie bekennen sich schuldig. Und vorausgesetzt, die Kommission erkennt die Morde als politische an. Von seiten des ANC ist dieses Ansinnen verständlich und moralisch berechtigt, auch wenn über die eigenen sprichwörtlichen Leichen im Keller in diesen Tagen lieber geschwiegen wird. Im Zweifelsfalle muß der Wahrheit eben etwas nachgeholfen werden. Aber das Verfahren könnte auch rasch zum politischen Schauprozeß werden. Und es hat höchst aktuelle politische Implikationen. Sollten wirklich de Klerk und Buthelezi – beide Mitglieder der jetzigen Regierung – vor Gericht gebracht werden, wird das auch das Ende der „Regierung der Nationalen Einheit“ sein. Es gibt Teile im ANC, denen die Versöhnungsstrategie Mandelas zu weit geht und die darüber nicht unglücklich wären. Wahrheit oder Gerechtigkeit? Kordula Doerfler