Frau und Mann auf verlorenem Posten

Wie es war. Was noch kommt: Hans Joachim Schädlichs kunstvolle Prosa der Lebensbeichten  ■ Von Peter Michalzik

Zwei Geschichten: In der zweiten erzählt eine Frau von ihren Männern. Welche sie gehabt hat, wie's gelaufen ist, warum es nie lange gehalten hat, daß sie einen Horror davor gehabt hat, Kinder zu bekommen. Das Ganze unter dem Motto: „Jetzt, wo alles zu spät ist“. Sie zweifelt an sich und ihrem Leben, sie versucht trotzdem klar und trocken zu bleiben, und so vollkommen verzweifelt ist sie nun auch wieder nicht. Soviel ist klar: Sie hat gern gefickt und hat ihre eigenen Vorstellungen. Am Ende erzählt sie von Peter, mit dem war sie zusammen, als sie in den Wechsel kam, der war viel jünger als sie, und es war noch einmal, als wenn sie selber jung wäre, das war's dann. Gut erzählt, Schädlich nähert sich den komplizierten Gedanken einer Frau bis in die Sprachabbrüche hinein präzise.

Die zweite Geschichte ist aber trotzdem nur die Komplementärgeschichte zur ersten, weitaus stärkeren. Schädlich stellt sie ihr gegenüber, wie wenn ein 80-Seiten- Band mit dem ersten Text nicht gereicht hätte. Die erste Erzählung ist abgründig existentiell und krachend komisch, streng und phantasievoll, das ist die Geschichte von Jedermann, ein reduzierter und trotzdem überbordender Text.

Schädlich macht hier einen Mann konsequent zu Fliegenfutter, am Ende ist er nicht mal das. Die letzte Frau mit der er etwas hat, ist wirklich eine Fliege, und welche stummen Unterredungen er mit ihr führt, das ist zwischen Skurrilität und banaler Alltäglichkeit das Packendste, was zum nicht gerade unbeackerten Thema „Fliege“ bisher zu lesen war. Wenn er am Ende etwas begreift, dann, daß diese Fliege seine beste Frau war, auch wenn er nicht aufhören kann, an Mösen zu denken.

Der Mann liegt im Krankenhausbett, in seinen Exkrementen, der Rücken suppt, er kann sich nicht mehr rühren, hat keine Zähne mehr, es versteht ihn niemand, rauchen kann er auch nicht. Trotzdem geht es noch irgendwie ruppig zu, wenn er sich stumm mit der Fliege auf seiner Nase unterhält. Er war vor allem ein Ficker. Besonders geschmackvoll ist die Kombination nicht, und offensichtlich macht es Schädlich richtig Spaß, die kleinen Unappetitlichkeiten am Rande etwas auszumalen. Seine Kratzbürstigkeit ist ein wirksames Mittel gegen die unzähligen Kuschelpolster und Wärmekissen, die uns Prosa sonst so gerne zur Verfügung stellt.

Und auch das Wort von der rauhen Schale und dem weichen Kern stimmt hier nicht. Es ist einfach der Rest, der daliegt, die reine Rudimentärfunktion. Bei dem Mann funktioniert nichts außer seiner inneren Stimme, und der hören wir zu. Je näher der Tod rückt, desto weiter geht es – wie immer – im Lebensüberblick zurück, aber auch das hat nichts Konventionelles, selbst dem Tod gewinnt Schädlich eine neue Variante ab. Diese achtzig Seiten sind wirklich das Klarste und Überraschendste, was es dieses Jahr zu lesen gibt. Nur einmal kommt auch Schädlich an einer banalen Pointe nicht vorbei: „Am Morgen hab ich mich gefühlt wie eine Eintagsfliege am Abend.“ Sonst enthält er sich der eher billigen Späße.

Schädlichs Weg als Schriftsteller ist konsequent. Bisher gab es noch den Einbezug der Realität in seine Prosa, sie kam sozusagen vor, wenn auch immer weniger, jetzt steht der Text ganz für sich. Die Aufsätze zu seinem Werk, die im 125. Heft von Text + Kritik versammelt sind, arbeiten dieses Thema durch: Die Eigenständigkeit von Schädlichs Prosa – bis zur Frage, wieviel Widerstandspotential diese Schreibweise enthält.

Die Autonomie des Literarischen, vielschichtig mit der Selbständigkeit des Denkens verbunden, ist in der Tat das zentrale Moment, um die Arbeit von Hans Joachim Schädlich zu verstehen. Dieser Bezug auf sich selbst ist kein Rückzug, im Gegenteil, es bedeutet eine klare Position, bedeutet der Wirklichkeit in der Auseinandersetzung mit ihr (nicht in mehr oder in der gelungener Nachahmung) näher zu kommen. In dieser Autonomie der Kunst, in dieser Kunst der Daseinsreduktion auf das Wesentliche, kamen andere vielleicht noch ein bißchen weiter als Schädlich. Aber erstens sind das die Allergrößten, zweitens kam Schädlich selbst noch nie so weit wie in dieser Erzählung, und drittens ist der Witz, der dabei herauskommt, absolut einzigartig.

Schädlich arbeitet wirklich ernsthaft daran, sich den Kopf frei zu machen von uneingestandenen Gefühlsbindungen, an Stadt, Land, Familie, Gruppe oder sonstwas, er arbeitet an der fortdauernden Desillusionierung. „Es liegt nicht in der Reichweite meiner Gefühle, zu bedauern oder zu begrüßen, daß ich in Deutschland geboren bin“, sagt er zum Beispiel in einem Interview in Text + Kritik. Auch auf diesem Weg zur Nüchternheit, die so schwer zu erreichen ist, weil sie viel mehr als intellektuelle Klarheit erfordert, ist Schädlich ein gutes Stück vorangekommen.

Und noch ein weiteres: Wenn die Literatur sich dem sogenannten einfachen Mann zuwendet, hat sie fast immer ein Problem. Ein mehr oder minder schöngeistiger Intellektueller versucht, wie ein Arbeiter oder eine Hausfrau zu reden und zu denken. Das ist fast immer furchtbar gestelzt. Bei Schädlich aber, da hören wir diesen Mann, diese Frau, die wir beim Vorbeifahren in irgendeinem Dorf über die Straße schlurfen sehen, mit Kittel oder Schürze, ein bißchen schmuddelig, wenn auch gewaschen, mit nackten Füßen in Schlappen, Latschen oder Puschen (je nach Gegend) und bei der oder demwir uns für einen Moment entsetzt, angezogen, abgestoßen fragen, was dieser Mensch wohl für ein Leben lebt. Bei Schädlich sprechen diese Figuren, die ganz Normalen, so zumindest bilde ich, wohl ein Intellektueller, mir das ein.

Hans Joachim Schädlich: „Mal hören, was noch kommt / Jetzt, wo alles zu spät ist. Rowohlt Verlag, 141 Seiten, geb., 32 DM