Der definitive Sadomaso-Akt

In der neuen Spielstätte der Berliner Volksbühne inszenierte Frank Castorf „Die Hochzeitsreise“, Vladimir Sorokins Stück für Deutschland  ■ Von Petra Kohse

Er liebe die Ästhetik des Totalitarismus, sagte Vladimir Sorokin bei einem Gespräch am Tag vor der Premiere. Und: Die Beziehung zwischen Rußland und Deutschland sei sadomasochistischer Natur. Der 40jährige Schriftsteller kommt von den Moskauer Konzeptualisten – eine zunächst inoffizielle Künstlergruppe, die seit den 70er Jahren in westlicher Popmanier mit der Form des Sozialistischen Realismus experimentiert – und hat in Deutschland großen Erfolg. Seit 1990 erschienen drei Romane, zwei Prosabände und vier Theaterstücke in deutscher Übersetzung.

Ästhetische Symbiosen, wie Sorokin sie vorführt, wecken hierzulande ein besonderes Interesse: Postmoderne und Traditionalismus treffen in diesen Texten gleichberechtigt aufeinander, Chiffren des Nationalsozialismus und des Stalinismus werden nicht moralisch apostrophiert. Dramaturgischer Kulminationspunkt ist stets die erotische Obsession.

1994 wurden in Dresden Sorokins Prosatext „Ein Monat in Dachau“ und das Theaterstück „Das Jubiläum“ uraufgeführt; das neueste Stück „Die Hochzeitsreise“ (Übersetzung: Barbara Lehmann) hatte als Koproduktion mit dem Deutschen Schauspielhaus in Hamburg jetzt in der Berliner Volksbühne Premiere. Es ist ein Stück für Deutschland.

Mascha, eine russische Jüdin, ist in den Westen gegangen und hat einen deutschen Millionär geheiratet. In einem Brief bittet sie ihre Freundin Marina in Moskau, nachzukommen: „Wir vögeln uns durch halb Deutschland, oder ich bin nicht Mascha Rubinstein.“ Ende des ersten Akts. In den folgenden vier Akten des „Vaudevilles“ wird die Retrospektive gespielt. Mascha spaltet sich zuweilen in zwei Figuren. Auftritt Günther von Nebeldorf, ein krankhafter Philosemit aus München, der stottert, schwitzt und jüdische Kunst sammelt. Mascha will ihn heiraten. Sein gequältes Geständnis, der Sohn eines SS- Oberführers zu sein, kontert sie unbeeindruckt mit dem Bericht von ihrer Mutter, einer besonders grausamen NKWD-Kommissarin. So weit, so harmonisch.

Eine Anti-Neurosen- Schocktherapie

Allerdings: Günthers sexuelle Leidenschaft erschöpft sich darin, gepeitscht zu werden, weswegen Mascha auf Rat eines Psychologen eine Anti-Neurosen-Schocktherapie ansetzt: Sie leiht sich eine NKWD- und eine SS-Uniform, und fährt mit dem sich sträubenden Günther in einem schwarzen Mercedes von Hamburg bis zum Obersalzberg. Genau da, wo Hitlers Haus stand, kommt es zum definitiven sadomasochistischen Akt mit väterlichem Fleischerhaken und mütterlichem Folterabsatz – „Mascha: Am nächsten Morgen erwachten wir nackt auf dem jungen Gras und vollzogen unseren ersten vollwertigen Liebesakt.“

Als Posse funktioniert „Die Hochzeitsreise“ so leidlich. Wesentlich daran ist, daß Sorokin hier die Moskauer Soz-Art-Programmatik durchspielt, und zwar anhand der deutsch-russischen Beziehungen. Mascha verkörpert die postsowjetische Dekadenz, für die die stalinistische Vergangenheit nur ein Stein im biographischen Mosaik ist, und die sich über russische Traditionen definieren kann, wenn sie Deutschen etwa zeigt, wie man richtig Wodka trinkt.

Günther ist der schuldbeladene Nachkriegsdeutsche, der sich durch die Aneignung einer fremden Kultur mühsam zu rehabilitieren versucht – und als Westler dennoch per se zum Objekt der Begierde wird. Maschas Therapie ist nichts anderes als die konzeptualistische Methode: Die Chiffren werden aus ihrem historischen Kontext gelöst und für eigene Zwecke verwendet – Stichwort „Subversion durch Affirmation“.

Doch das Stück ist nicht zu Ende. Als Günther Mascha vor der Hochzeit in die Kapelle seiner Familie führen will, wird er von seinem Trauma eingeholt. Wieder beginnt er zu stottern, wieder kauft er Jüdisches en gros. Sobald der Deutsche sich auf seine Traditionen besinnt schlägt die Vergangenheit über ihm zusammen – kein freudloser Land in dieser Zeit. „Hochzeitsreise“ ist auch ein Spiel, das der Deutschlandreisende Sorokin mit sich selbst gespielt und vielleicht nicht ungern verloren hat: Soz-Art ist mit deutschen Inhalten nicht kompatibel, hier grübelt man sich zwanghaft so durch.

Die Uraufführung fand im Prater statt, einem vormaligen Kreiskulturhaus in Prenzlauer Berg, das die Volksbühne für mehrere Monate im Jahr als Dependance angemietet hat. Unter der Leitung von Lukas Langhoff soll der Prater ein Jungbrunnen für den langsam verstaubenden Theaterpunk der Volksbühne werden. Als Eröffnung in dieser Spielzeit waren entsprechend drei Inszenierungen von Nachwuchsregisseuren geplant, von denen nur eine zustandekam. Also sprang Volksbühnenintendant Frank Castorf ein und inszenierte – eine Rarität – ein neues Stück. Nur drei Wochen nach seiner Fellini-Adaption „Die Stadt der Frauen“ im Haupthaus war die „Hochzeitsreise“ fertig.

Als Zuschauerraum wurden kaum hundert Stühle in den großen Ballsaal gestellt und mit Pappkisten eng ummauert (Bühne: Bert Neumann). Den einleitenden Brief an Marina sprechen die beiden Maschas (Jeannette Spassowa und Carolin Mylord) halbnackt auf den Kisten kriechend beziehungsweise zwischen Kisten kauernd. Dann fällt die Pappmauer und gibt den Blick frei auf die russisch-deutsche Begegnungsstätte – ein Ort des Kitsches, hinten begrenzt von einer Reihe Kinosessel und einem lämpchendurchwirkten Blumenstilleben. In der Mitte des Raumes verbirgt sich ein Stehlampenidyll hinter einem weißen Mäuerchen, links hängt ein enormes Porträt der NKWD-Mutter, rechts entsprechend der SS-Vater. Und Steve Binetti sitzt an der E-Gitarre herum und spendet sparsam verschwiemelte Rock-Akkorde.

Durch diesen Kleinbürgerfriedhof taumelt nur Bernhard Schütz als Günther von Nebeldorf mit einem riesigen Davidstern am Stab. Unter der Last der ererbten Schuld kann er nur atemlos prustend sprechen, und statt einer Hose trägt er Perlonstrümpfe – als Perverser so gleich kenntlich, aber auch als hosenlose Unschuld.

Schon-immer-West und Ganz-weit-Ost

Denn Castorf, der Sorokins Text blockweise umgestellt hat und manchmal eine Passage erst spielen, dann vortragen läßt, fügt auch Text hinzu. Gemäß der Castorf- Tradition, Regietheater als vorrangig dramaturgisches Konzept zu verstehen und Schauspielern stets Raum zu lassen, ihre stage-credibility durch Extemporieren unter Beweis zu stellen, darf Schütz seine Figur vor dem Publikum wütend rechtfertigen. Und zeigt er mit der Frage „Waren Sie schon mal in Israel?“ noch ironische Distanz, so wird's ganz ernst, wenn es gegen die Kreuzberger (also westdeutsche) Betroffenheitskultur geht – ein Lieblingsthema des Hauses. So jämmerlich dieser Nachkriegsdeutsche Günther ist, so sympathisch ist er Schütz und Castorf doch als Aktivistenfigur im Ostberliner Prater.

Sorokins gelassene Konzeptposse hat Castorf in die deutsche Ost-West-Kiste gepackt, und da kommt sie nicht heraus, mag die Inszenierung im Detail auch noch so sorglos bunt sein. Ein Spiel mit Formen wird mit einem polemischen Furor befrachtet, deren Ursprung und Zielrichtung aber gar nicht deutlich werden kann. Denn an Ostdeutschland hat Sorokin in der „Hochzeitsreise“ kaum gedacht, DDR-Bürger kommen nur als Witzfiguren vor. Es geht um die Anziehung zwischen Schon-immer-West und Ganz-weit-Ost.

Die Volksbühne, ein Haus mit politischem Anspruch und expliziter Post-DDR-Identität erweist sich also als denkbar falscher Uraufführungsort. Castorf macht, was Castorf immer macht, es wird Waschpulver geschnupft und zur Parfümierung verwendet etc., aber was Sorokin will, muß einem ein Rätsel bleiben. Da hilft es auch nicht, daß am Schluß das konzeptualistische Programm rezitiert wird: Man möge Stalin ohne Ressentiments begegnen, heißt es, und: „Diese Kunst schafft beides – Text und Kontext.“ Gerade darauf will man ja nicht vertrauen – ohne Volksbühnen-eigenen Kontext bekommt man in der Volksbühne nichts zu sehen.

Volksbühne im Prater, Berlin, wieder am 9. und 13.–15. 11.