Für einen fanatischen Gegner des Nahost-Friedensprozesses gingen die Zugeständnisse der israelischen Regierung zu weit. Am Samstag abend, bei einer Massenkundgebung für den Frieden in Tel Aviv, erschoß ein 27jähriger Israeli aus den Reihen

Für einen fanatischen Gegner des Nahost-Friedensprozesses gingen die Zugeständnisse der israelischen Regierung zu weit. Am Samstag abend, bei einer Massenkundgebung für den Frieden in Tel Aviv, erschoß ein 27jähriger Israeli aus den Reihen der rechten Siedlerbewegung Ministerpräsident Jitzhak Rabin

Der Wille zum Frieden brachte Rabin den Tod

Das ist nicht wahr. Wir sind allein auf der Welt. Israel ist verloren!“ schrie eine junge Israelin ihre Verzweiflung heraus. Zusammen mit Tausenden anderen stand sie vor dem Krankenhaus, in dem Ärzte bis vor wenigen Minuten um das Leben Jitzhak Rabins gerungen hatten. – Vergebens.

Drei Stunden hatte der 73jährige Ministerpräsident in Tel Aviv auf einer gigantischen Demonstration gesprochen. 100.000 Menschen demonstrierten für den Frieden. „Ich will, daß diese Regierung jede Möglichkeit ausschöpft, um einen umfassenden Frieden zu fördern“, sagte Rabin unter tosendem Beifall. Dann ging er zu seinem Wagen. Als er gerade einsteigen wollte, stürzte sich ein junger Mann mit Pistole auf in. Dreimal feuerte er auf Rabin. – Der vielfach dekorierte Kriegheld Jitzhak Rabin starb am Ende einer Friedensdemonstration.

Der Täter, ein 27jähriger Student, wurde überwältigt. Er behauptete, allein gehandelt zu haben. Den Auftrag zum Mord habe ihm Gott erteilt. Eigentlich habe er auch Außenminister Schimon Peres treffen wollen. Wenig später meldete sich bei einer Fernsehanstalt ein anonymer Anrufer und erklärte, eine Organisation „Jüdische Rache“ stecke hinter dem Anschlag. Bisher war eine solche Gruppe völlig unbekannt.

Gestern standen an dem Platz, an dem die tödlichen Schüsse gefallen waren, trauernde Menschen. Aufgestellte Kerzen formten das Wort „Warum?“. Auf einem Transparent war zu lesen: „Dieser Haß tötet uns.“

Unterdessen wurde Rabins Leichnam nach Jerusalem gefahren. In einem Sarg unter einer israelischen Fahne wurde er in der Knesset – dem israelischen Parlament – aufgebahrt. Zur Beerdigung werden heute 2.500 Staatsgäste erwartet. Rabin wird an der Seite seiner beiden Vorgänger, Golda Meir und Levy Eschkol auf dem Herzl-Berg bestattet.

Die Amtsgeschäfte übernahm gestern kommissarisch Außenminister Schimon Peres. Er ordnete zweitägige Staatstrauer an. Die Sicherheitsvorkehrungen wurden weiter verschärft, die Zugänge zur Westbank und zum Gaza-Streifen abgeriegelt. Angeblich berief die Armee Reservisten ein.

Peres betonte, daß Israel am Nahost-Friedensprozeß festhalten werde. „Es gibt nur einen Weg, weiterzumachen... Das Lied des Friedens wird nicht verstummen.“ Er nannte Rabin einen „herausragenden Führer in der Geschichte des jüdischen Volkes“. Peres hatte gemeinsam mit Rabin und PLO- Chef Jassir Arafat im vergangenen Jahr den Friedensnobelpreis für die Verdienste um den Friedensprozeß im Nahen Osten erhalten.

Oppositionsführer Benjamin Netanjahu gab gestern bekannt, daß sein oppositioneller rechter Likud-Block sich einer Regierungsbildung durch Peres nicht widersetzen werde. Auf einer Fraktionssitzung sagte Netanjahu: „In einer Demokratie werden Regierungen durch Wahlen ersetzt, nicht durch Mord.“ Die nächste reguläre Parlamentswahl wäre im Oktober 1996. Laut Gesetz muß Präsident Eser Weizman sondieren, ob Peres oder Netanjahu in der Lage sind, eine Regierung zu bilden. Eine Sprecherin des Präsidialamtes erklärte, Weizman werde mit den Beratungen erst nach der Beisetzung Rabins beginnen. Netanjahu sagte, er werde dem Präsidenten empfehlen, „daß die Verantwortung für die Regierungsbildung dem Kandidaten der Arbeiterpartei zukommt, der bisherigen Regierungspartei“. Nach dieser Ankündigung gehen Beobachter nun davon aus, daß Weizman vermutlich Peres mit der Regierungsbildung beauftragen wird und daß dieser bis zur Wahl 1996 im Amt bleibt.

Netanjahu sagte: „In dieser schweren Stunde ... halte ich es für unsere Pflicht, ... Verantwortung zu zeigen und im Namen der nationalen Einheit Zurückhaltung zu zeigen.“ Likud ist ein erbitterter Gegner des Nahost-Friedensprozesses und vor allem der Autonomieabkommen mit den Palästinensern. Vor dem Mordanschlag hatte Rabins Arbeiterpartei Netanjahu vorgeworfen, mit seiner Rhetorik politischer Gewalt den Boden zu bereiten.

Unter heftige Kritik gerieten gestern die Polizei und der Inlandsgeheimdienst Schin Beth. Viele Israelis fragen sich, warum die Sicherheitsdienste, um die ein wahrer Kult getrieben wird, den Anschlag nicht verhindern konnten. „Niemand hat jemals geglaubt, daß eine solche Sache bei uns passieren könnte“, sagte Polizeiminister Mosche Schahal im israelischen Rundfunk. Zugleich kündigte er eine Überprüfung aller Sicherheitsvorkehrungen für hohe Politiker an. „Die ganze Sache wird aufgeklärt, und Konsequenzen werden gezogen“, versprach er.

Aus Polizeikreisen hieß es, der Chef der Spezialeinheit, die in Zusammenarbeit mit Schin Beth für den Personenschutz zuständig ist, werde bald seinen Hut nehmen. Nach Angaben eines hohen Beamten des Schin Beth fürchteten die Sicherheitsdienste seit langem, daß ein isolierter Einzeltäter Rabin oder Außenminister Schimon Peres ins Visier nehmen könnte.

Daß der Anschlag bei einer Massenveranstaltung passieren konnte, löste bei Experten Unverständnis aus. „Wie werden mehrere Punkte genauestens zu klären haben. Dazu gehört vor allem die Frage, warum der Attentäter mit einer Waffe herumlaufen, bis zur Rednertribüne vordringen, seine Pistole ziehen und drei Kugeln vom Kaliber neun Millimeter abgeben konnte“, erklärte der frühere Chef der Spezialeinheit und Freund Rabins, Sari Awiwi. Auch sei verwunderlich, warum keiner der Leibwächter das Feuer auf den Attentäter eröffnete. „Vielleicht waren einige Kinder in der Nähe des Schauplatzes“, sagte Awiwi.

„Die Polizei kann ihre Verantwortlichkeit nicht leugnen angesichts der Tatsache, daß fast 700 Polizisten und Grenzschützer am Ort des Geschehens waren“, sagte ein hoher Beamter. „Jetzt herrscht in den Sicherheitsdiensten die blanke Panik. Es werden mit Sicherheit Köpfe rollen.“ Rabin hatte sich immer geweigert, eine kugelsichere Weste zu tragen. Außerdem hielt er sich gegen den Rat seiner Berater bis zum Ende der Friedensdemonstration am Kundgebungsort auf und verließ die Tribüne nicht sofort nach seiner Rede. „Ich fühle mich hier wie zu Hause“, sagte er. Thomas Dreger