Aus der Engel Ordnungen

■ Die Schriftstellerin Antonia Byatt beschwört im Literaturhaus die Geister

Das Publikum wird die Füße behutsamer aufsetzen und die Türen weniger abrupt hinter sich zuschlagen am Ende der Lesung von Antonia Byatt. Man könnte ja versehentlich auf den Erzengel Gabriel treten oder auf einen weniger bekannten Kollegen aus den Reihen der himmlischen Heerscharen.

In ihrem im Frühjahr erschienenen Roman Geisterbeschwörung, aus dem Mrs. Byatt heute um 20 Uhr im Literaturhaus liest, wird einiges berichtet über „dieses ungeschlachte Geflügel“, das uns bisher bestenfalls in Form von Schutzengeln auf Sonntagsschulbildchen bekannt war. Antonia Byatts Figuren mahnen zur Umsicht: Täglich sind wir von uns verwandten und vertrauten Toten in Form von Engeln oder ähnlich entmaterialisierten Personen umgeben. Sie lümmeln hinter Blumenvasen, auf Sofalehnen oder unterm Bettkasten, wenn nicht gar obenauf. Von uns ganz und gar übersehen.

„Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen?“ fragte Rilke seinerzeit bang angesichts der konkreten Vorstellung dieser Wesen. Und? Erfahren wir bei Antonia Byatt die Antwort?

Vorerst ist einmal die Umgebung recht begeisternd. Man schreibt das Jahr 1857 und befindet sich in einem englischen Küstenstädtchen. An einem stürmischen Spätnachmittag im leicht muffigen Kaminzimmer des pensionierten Kapitäns Jesse treffen sich sechs höchst skurile Personen. Hier bieten die beiden ledigen Damen Lilias Papagay und ihre Mitbewohnerin Sophy Sheekhy ihre Seancen an, ihnen ist es ein leichtes, wenn auch körperlich anstrengend, die Geister zu materialisieren.

Alle, die gemeinsam am Tisch die Hände halten und tief eintauchen in die Welt der Verstorbenen, haben ganz irdische Bedürfnisse. Mrs. Emily Jesse beispielsweise verzehrt sich nach ihrer früh verstorbenen Jugendliebe und wüßte gern die Chancen, sich im Himmel doch noch einmal körperlich zu vereinigen. Der bigotte Mr. Hawke klopft die gesamte Offenbarung des neuen Testaments auf die Möglichkeiten der Befriedigung sexueller Begierden ab und wird sogar bei Paulus fündig: „Es ist besser freien, als von Begierde verzehrt werden“, zitiert er den Apostel. „Ist dies nicht eine edle und mutige Auffassung von unserer Natur und unserer wahren Pflicht?“ drängt es ihn ganz diesseitig zu Mrs. Papagays Knie . . .

Wenn die Runde am Ende in die stürmische Nacht hinaustritt, sind (fast) alle auf ihre Kosten gekommen. Ganz diesseitig, versteht sich. Nach der Lesung heute abend empfiehlt sich dann ein Gang ans Alsterufer bei Vollmond und hoffentlich peitschenden Wellen. Vielleicht schwebt ja ein Geist über dem Wasser. Elsa Freese