Social steht für Sozialismus

■ „Slamer“ knallen sich jetzt bei Literatur-Performances die Worte um die Ohren, wie die Punks die schrillen Laute ihrer Musik / Nach Hannover will der „Slam“ jetzt den Norden erobern

„Auf dem Bettlaken - früher weiß, jetzt rot - wälzte ich mich herum wie ein blutleerer Käfer im Netz einer Spinne: Vollzug total. Beischlaf mit 60 Kilogramm Hackfleisch oder was Frau Müller immer schon „geil“ fand“ – freischaffende AutorInnen präsentieren nicht mehr nur in kleinen Zirkeln, was ihrer Meinung nach im Leben vieler Zeitgenossen eine gewichtige Rolle spielt.

„Social Beat“ - Prollkultur oder das wahre Leben? - nennt sich der neue Trend. Underground-Dichtung, von jedermann ausgeworfen, dezent oder gebölkt, kommt in Mode.Schon Douglas Couplands Protagonisten in „Gerneration X“ erzählten einander Phantasy-Geschichten, Lovestories und apokalyptische Ich-war-dabei-Berichte. Deutsche Popliteraten wie Enno Stahl und Jörg Dahlmeyer waren Mitte der 80er Jahre in Berlin dabei, frohe Botschaften mit „Die-da-oben-sollen-sich-verpissen“-Tendenz zu verkünden.

Die Wurzeln liegen in der Musik. Dem Punk, so scheint es, ist ein literarischer Arm nachgewachsen. Häufig tauchen maßloser Alkoholkonsum, sexuelle Exzesse oder verbale Gewaltakte in den „Slams“ genannten literarischen Elaboraten auf.Neu daran eher die Form. Antibürgerlicher als die Inhalte sei eben die Art der Präsentation, finden die Urheber. AutorInnen mit gemäßigtem Vokabular denunzieren „Social-Beater“, die sich in der Tradition der Beatnik-Poeten um William S. Burroughs und Jack Kerouacs sehen, als „literarische Punks“ mit „Gossen-Image“, deren Hauptanliegen es sei, ihre „Sauf- und Kopulationserlebnisse“ öffentlich zu machen. „Social bedeutet im weitesten Sinn Sozialismus. Beat beschreibt den Lebensrhythmus, den Herzschlag, die Jahreszeiten, was auch immer“, sagt der Hannoveraner Autor Kretsen Flenter.

In Parks und Pinten treffen sie sich, die berufenen Schreiberlinge, die weder Rang noch Namen haben. „Der Störer“, „Krachkultur oder „Kopfzerschmettern“ sind die selbstkopierten Fanzines der Szene, in denen nicht wenige AutorInnen eine Art emotionalen Exhibitionismus zelebrieren. „Wir onanieren nicht auf der Bühne“, erklärte Flenter. Motor der 40 Stifte zählenden „Social Beat“-Fraktion in Hannover.

In Körperausscheidungen liegt viel Wahrheit, erfuhren Zuhörer unlängst beim „Bundesweiten Music-Poetry-Festival Social Beat“ im Hannoveraner Kulturzentrum „Faust“. 500 Leute, zumeist StudentInnen oder Spontis lauschten da im Halbdunkel einer ehemaligen Fabrikhalle den intimen Bekenntnissen erfrischend „geschmackloser“ Jungliteraten. „Es ist alles erlaubt“, sagt Organisator Flenter. Grobilyn Marlow, sporadischer Vorlesungsteilnehmer an irgendeiner Uni, schreibt, wenn alles stimmt, für eine Obdachlosenzeitung im Ruhrpott, und zeigte im „Faust“ das Talent, wenige Sekunden seines Daseins durch elegant verklausulierte Banalitäten in abendfüllende Zustandsberichte seiner Seele auszudehnen.

Hadayadtulla Hübsch, alter Kommune 1-Revoluzzer aus Berlin, Andi Lück, vom Taxifahrerleben traumatisierter Nachtschichtler oder der Hannoveraner Student und Eigendrucker Henning „Krass“Chadde (“Horizont heißt mein Rasierwasser, Harry mein Bier“) - sie alle sprachen in leicht zu verstehenden Texten und nicht stubenrein.

Daß es dennoch Grenzen der Performance gibt, bekam Bauwagenbewohner Marco Lazarov zu spüren. Der Mann mit Hut und Stock, nach eigener Einschätzung Urgestein der lokalen Szene, wurde von der Veranstaltung ausgeschlossen, nachdem er mit ausnahmsweise pfandwerten Bierflaschen Poeten und Fans beworfen hatte. Niemand schmeißt schließlich ungestraft mit dem Handwerkzeug der Bewegung herum. Axel Köhler

Henning Chadde liest am 12. 12. um 16 Uhr im Offenen Kanal, Hörfunk, in „Crossbeat“