Nachschlag

■ Erinnerungs-Talk mit Christa Wolf im Berliner Ensemble

575 Leute spazierten am Sonntag zur Matinee ins BE, um sich ein Gespräch zwischen Christa Wolf und Harry Mulisch anzuhören. Anlaß war die Eröffnung der 4. Berlin-Brandenburgischen Buchwochen unter dem flotten Titel „Im Fahrstuhl des Jahrhunderts“, ein Motto, in dem Frau Wolf auf dem Podium wohl zu Recht Mittäterschaft und Mit-Leid am vergehenden Jahrhundert nicht genug gewürdigt sah. In den 111 Lesungen bis zum 26. November kann man zwischen Gransee und Königs Wusterhausen eigentlich alles hören: Null-Uhr-Kuttner live in Frankfurt/Oder, Hermann Kant in Ludwigsfelde und Mathias Wedel mit „Einheitsfrust“ in Bernau – solange die Händler vor Ort ihre Freude dran haben, sehen es auch die Organisatoren vom Verleger- und Buchhändler-Verband mit dem Programm nicht so eng.

Und da sitzen nun also Wolf und Mulisch – Auguren des sich summierenden Jahrhunderts, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Armer Moderator Christoph Buchwald. Ständig werden ihm Urteile unterstellt: „Das können Sie nicht wissen!“ Just hatte Buchwald an Altachtundsechzig gedacht und schaudernd eine Realisierung seiner einstigen Dummheiten im Vietnam-Komitee ausgemalt. Er stutzt. Kaum vorstellbar, daß der scharfe Ton von jener schweren Frau gekommen ist, die ruhig weiter spricht: Daß die Erinnerungsarbeit der Versuchung ausgesetzt sei, besonders rigoros zu sein. Und daß auch dies zum Betrugssystem gehöre: zu glauben, historische Wahrheit erscheine, wenn man als falsch erkannte Ideale am Konjunktiv mißt. So geht das nicht. Vom anderen Pol des Podiums ein Kopfnicken. Mulisch bestätigt. „Wer damals nicht das Vietnam-Komitee unterstützte, war auf der falschen Seite.“ Im Glauben an die Wahrheit des historischen Augenblicks sind sie sich einig.

Christa Wolf steht für eine gelebte Autobiographie. Vom Kind, das erstmals „ich“ sagt, bis zum Ereignis 89 zieht Wolf das 20. Jahrhundert wie Erinnerungsperlen an einer Schnur auf. Und eine 63jährige nimmt ihre „ganze Lebensgeschichte zu Hilfe“, um bei sich selbst zu sein. Zukunftsprojekt Vergangenheit? Harry Mulisch will seinen Erinnerungsschatz dafür nicht hergeben. Der Schöpfergott braucht ihn für seine Kunst: Ihm sind bis zum „A.-H.-Erlebnis“ (Adolf Hitler) authentische Erfahrungen alle von gleicher Gültigkeit. Sein 20. Jahrhundert dient dem kombinatorischen Vermögen des Optimisten: Hitler – ein peripheres Ereignis; Jugoslawien – nun auch bald vorbei; der 3. Weltkrieg – läßt auf sich warten. „Letzten Endes kommt alles unter einen Hut. Alles wird gut.“ Fritz v. Klinggräff