■ Wir leben friedlich mit unseren bildungspolitischen Skandalen. Daran ändert auch die neue Denkschrift nichts
: Ausgepowert in die Zukunft

Kaum einer von den Genossinnen und Genossen weiß noch, daß Bildungspolitik in der SPD einst groß geschrieben wurde. Bundesparteitage widmeten sich dem Thema. Lang ist es her, daß Bildungsthemen Schlagzeilen machten. Als die Kultusministerkonferenz (KMK) um die Anerkennung der Gesamtschulen stritt und um das einheitliche Abitur der Deutschen, mischten sich Parlamente und Regierungen ein. Heute leben wir friedlich mit dem Skandal, in Ost und West zwei ganz verschiedene Abiture zu besitzen. Und daß es die KMK noch gibt, wissen nur Eingeweihte.

Da ist es schon bemerkenswert, wenn eine Landesbildungskommission Schlagzeilen macht. Johannes Rau, in grauer Vorzeit selbst Mitglied der KMK, hat ihr den Bericht über die Schule der Zukunft abverlangt und eingeleitet. Die Denkschrift wird den Weg aller Denkschriften gehen und bis auf weniges recht schnell vergessen werden. Zu viel zutreffende Allgemeinheiten sind hier versammelt. Sätze wie dieser finden sich angehäuft: „Lebenslanges Lernen ist in einer Gesellschaft, in welcher der einzelne sich immer rascher verändernden Anforderungen ausgesetzt sieht, eine Überlebensnotwendigkeit.“ Aber ja doch. Deswegen haben fortschrittliche Bundesländer auch Weiterbildungsgesetze, die faktisch außer Kraft gesetzt sind, weil Weiterbildungsurlaub heute als firmenfeindlich gilt. Wenn Lehrerinnen und Lehrer lesen: „Eine neue Schulreform muß die Möglichkeit schaffen, Lehrerinnen und Lehrer, Eltern, Schülerinnen und Schüler an den Reformüberlegungen zu beteiligen ...“, dann müssen sich diejenigen verhohnepipelt fühlen, die mit immer weniger und immer älteren LehrerInnen immer größere Klassen unterrichten. Die Schule in der Gegenwart auszupowern und ihr gleichzeitig Zukunftskonzepte vorzugaukeln, ist Zynismus. Tröstlich, daß die Kommission die Schule als Garantin der Öffentlichkeit von Bildung für unverzichtbar hält. Am Ende allen Sparens wird es also doch noch Schule geben.

Ein wenig schul- und gesellschaftsfremd war sie schon, die Kommission, in der bezeichnenderweise keine LehrerInnen saßen, wenigstens keine, die sich noch an die Schulpraxis erinnern. Der GEW-Oldie Frister ist schon lange jenseits von Gut und Böse. Hier waren halt Professoren am Werke, garniert mit Hilmar Kopper (Deutsche Bank) und Reinhard Mohn (Bertelsmann), die sicherlich ihre Assistenten querlesen ließen. Der ausgebuffte NRW- Bildungsbürokrat Brockmeyer hat als Geschäftsführer der Kommission darauf geachtet, daß hier kein Ärgernis entsteht.

Die Denkschrift räumt zwar ein, daß die Deutschen weniger als fünf Prozent des Bruttosozialprodukts für ihr Bildungswesen ausgeben – mit sinkender Tendenz, doch wird diese Schäbigkeit, die uns inmitten von Kulturnationen den Schwellenländern näherbringt, am Ende schöngeredet. Statt eines Notschreis, in den viele gewichtige Leute aller Lager einstimmen sollten, hört man von der Kommission nur freundliches Verständnis für den Haushaltsgesetzgeber, besonders den in NRW. Die Deutschen werden aber immer dümmer, weil sie an ihren Schulen und Universitäten auf skandalöse Weise sparen. Die merkwürdig matten Empfehlungen der Kommission verlangen keinen personellen Mehraufwand. Es sollte halt nicht schlechter werden. Wie bei der geforderten breiten Diskussion die fehlenden Finanzen unerwähnt bleiben können, weiß allein die Kommission.

Einen Gedanken, der sich wie ein roter Faden durch den Text zieht, wird mancher Kultusminister als hilfreich empfinden: die Sache mit der Schulautonomie. Es ist nicht so sehr der Wunsch nach Repädagogisierung der Schule, der solches Denken befördert, vielmehr entlastet Schulautonomie die Politik bei der Auseinandersetzung mit der Schulklientel. Wütende Kollegien und Eltern können mit ihrem Protest an sich selbst zurückverwiesen werden. Die Schule ist zuständig. Soll sie doch eigenverantwortlich mit dem von der Politik verschuldeten Elend fertigwerden.

Die weitgehend autonome Schule, auch die sogenannte teilautonome Schule, wie sie der Kommission vorschwebt, wird aber bei flächendeckender Umsetzung ein Bildungschaos produzieren. Schule steht und fällt mit der Qualitätssicherung, für die der Staat geradestehen muß. Bei aller Öffnung des Fachunterrichts gibt es in Mathematik, in Physik, in Geschichte, Englisch, Deutsch wie in allen nicht auflösbaren speziellen Unterrichtsfächern Leistungsstandards, die zwischen den Schulen eines Bundeslandes wie zwischen den Schulen der Republik innerhalb einer Bandbreite vergleichbar sein müssen. Daß die Vergleichbarkeit gegenwärtig ein Schwindelregime ist, darf nicht dazu führen, daß sie aufgegeben wird. Die Forderung nach Schulautonomie ist eine Konsequenz des Schlendrians und der Selbstherrlichkeit von Lehrerinnen und Lehrern sowie des Autoritätsverlustes von Schulaufsicht im letzten Jahrzehnt.

Ein Kanon etwa von Gedichten oder Geschichtszahlen, der von allen SchülerInnen gelernt werden sollte, ist zwischen FachlehrerInnen nicht mehr aushandelbar. Wenn sich die Klassenzimmertür hinter dem deutschen Lehrer schließt, bestimmt er ganz allein, was in die Köpfe seiner Schüler soll. Verbindliche Standards schwinden, obwohl es noch Lehrpläne gibt. Der Staat mahnt ihre Einhaltung nicht mehr ein, treibt aber den Schulen für ihre pädagogische Willkür die SchülerInnen per Gesetz in die Klassen.

Wer dieses System will, muß die einzelnen Schulen in die freie Konkurrenz führen, damit Eltern leistungsschwache Gebilde pleite gehen lassen können. Abgesehen davon, daß so etwas nur in Großstädten möglich ist, begünstigte ein solches System wieder Bildungsprivilegien. Das ist nicht mehr die Schulreform der SPD. Die Bil- dungsabschlüsse wären noch mehr entwertet als heute schon. Törichte Firmeneingangstests und Zulassungsprüfungen der Hochschulen sind die Folge von Schulautonomie. Man kann die Außensteuerung der schulischen Leistungsstandards durch die Anforderungen der Abnehmer bejahen, es ist aber blauäugiges Professorendenken, Schulabschlüssen weiter Verbindlichkeit geben zu wollen, die Bildungsinhalte aber der Beliebigkeit von bestenfalls Kollegiumsbeschlüssen auszusetzen, über deren Einhaltung niemand mehr wacht.

Lieber Johannes Rau, wenn du wirklich weit über Nordrhein- Westfalen hinaus anregend wirken willst, wie du im Vorwort der Denkschrift schreibst, dann hole viele neue LehrerInnen in die Schulen! Horst-Werner Franke