Denkbar einfachste Verhüllung

Die Kunsthistorikerin Anne Hollander schrieb mit „Anzug und Eros“ eine Modegeschichte als Heldenlied – und zielt damit auf nichts weniger als die Revision der paradigmatischen Verklammerung von Mode und Frau  ■ Von Brigitte Werneburg

Schon bei Georg Simmel war es so, und später wurde es nicht anders: Das Nachdenken über die Mode ist das Räsonieren über die Frau. Und doch, historisch betrachtet spricht, wer von der Mode spricht, vom Mann. Ganz entgegen der gewohnten Annahme wurde nämlich nicht der Mann zu Beginn der Moderne mit einem Modeverbot belegt, sondern die Frau. Der Mann machte im ausgehenden 18. Jahrhundert im neuen Schneideranzug aus Wolle und Leinen Mode – die Frau dagegen verharrte in Tracht und Tradition.

Das jedenfalls ist zugespitzt die These der amerikanischen Kunsthistorikerin Anne Hollander. Ihre scharfsinnige Analyse der Modegeschichte zielt auf nichts weniger als die Revision der paradigmatischen Verklammerung von Mode und Frau. „Anzug und Eros“ lautet der deutsche Buchtitel ihrer Modegeschichte als Heldenlied – mit durchaus überzeugenden Argumenten.

Schon im ausgehenden Mittelalter, so Hollander, war es der Mann, der mit der antiken Tradition brach. Da tauschte er die körperverhüllende Tunika gegen die textile Imitation der Ritterrüstung. Die Betonung des Rumpfes im enganliegenden Wams aus Samt und Seide, die kurze Hose und das Zurschaustellen der Beine in enganliegenden Strumpfhosen, all das bot ihm nun die Möglichkeit, seiner körperlichen Schönheit Ausdruck zu geben – höchst individuell, erfindungsreich und zunehmend prächtig gestaltet dazu.

Daß der Anzug, der diesem Kleiderluxus aus farbenfrohen Stoffen mit Gold- und Silberstickereien, mit Rüschen, Spitzen und Knöpfen ein Ende setzte, der „große männliche Verzicht“ (so der Freudianer und Modepsychologe J. C. Flügel 1930) auf die Mode gewesen sei, täuscht. Denn ganz im Gegenteil, so Anne Hollander, war dieser Anzug, den etwa Caspar David Friedrichs bürgerlicher Wanderer über dem Nebelmeer trug, nichts anderes als eine neue Mode. Wie stets war sie avancierter und ästhetisch anspruchsvoller als die der Frau – und setzte darüber hinaus einen Standard, dem die weibliche Mode in den folgenden zweihundert Jahren, bis zum Auftauchen des Kostüms und des kurzen Rocks, nichts entgegenzusetzen hatte.

Mit dieser brisanten Behauptung geht aber eine deutliche Schwäche von „Anzug und Eros“ einher. Denn Hollander arbeitet den politischen Hintergrund ihrer These nicht heraus. Erst im Zuge der ideologischen Ausarbeitung der republikanischen Demokratie im späten 18. Jahrhundert differenzierte sich die alte Kleiderordnung in das moderne soziale Subsystem der Mode aus – zeitgleich übrigens mit dem Aufkommen des dunklen Schneideranzugs, in dem sich das „individuelle Allgemeine“ der freien Männer der Republik symbolisch feierte. Wer Gründe hatte, sich hier nicht einzureihen, wie etwa der Klerus, der blieb beim langen Rock, bei Gold, Samt und Seide. Und wem das Einreihen nicht erlaubt war, wie den Frauen, der blieb beim langen Rock, bei nur verführerischer Raffinesse in alter Tradition.

Jetzt wurde Kleidung primär als männlich (oder weiblich) identifiziert und erst dann als vornehm, ländlich oder proletarisch. Die Tugenden, die dem Mann im Anzug zugesprochen wurden – moralische Stärke, ästhetische Nüchternheit und natürliche Wahrheitsliebe – mochten sich, wie Hollander meint, in den ehrlich hervortretenden Nähten des Anzugs und in der sichtbaren Webart seines einfachen Stoffes symbolisieren. Aber nur, und das vergißt sie zu erwähnen, weil der Mann frei und gleich geboren war. Deshalb trug er notwendigerweise ehrliche Kleider – wie er notwendigerweise ehrliche Häuser baute. Und war der Anzug, wie Hollander in einer ihrer hellsichtigsten Beobachtungen bemerkt, die denkbar einfachste Verhüllung – eigentlich aber Enthüllung – des nackten, idealen antiken Athleten, so war der weiße Anstrich, der das nackte ideale Haus des Klassizismus verhüllte, sein Pendant.

Wäre Hollander der von ihr nur kurz erwähnten Verbindung von revolutionärer Architektur und revolutionärem Anzug gefolgt, wüßte sie am Ende ihres Buches mehr zum Ennui am Herrenanzug zu berichten. Immerhin erlebte die weiße Wand, das nackte Ideal des Klassizismus, ihre große Renaissance in der Avantgardearchitektur der 20er Jahre. Gerade hier waren männliche Tugenden wieder en vogue. Der Anzug aber war – trotz seines stetig beschworenen Modellcharakters für das Bauen – ziemlich verhaßt. Der kurze Frauenrock, das kleine Schwarze hatten seinen Nimbus gebrochen.

Wollte Anne Hollander nicht unbedingt fast referenzlos und ohne jedes Zitat auskommen, hätte sie Le Corbusier das Wort lassen können: „So hat die Frau ihre Haare abgeschnitten, ihren Rock und ihre Ärmel gekürzt. Sie geht barhäuptig, mit nackten Beinen und Armen, und sie kann sich in fünf Minuten anziehen!... Und was ist mit uns Männern? Verdrießliche Frage! In unseren Kleidern sehen wir aus wie die Generäle der Grand Armée, und wir tragen steife Kragen! ... Wir ... sind um eine empfindliche Länge von den Frauen geschlagen worden.“

Anne Hollander: „Anzug und Eros“. Berlin Verlag 1995, 302 Seiten, 39,80 DM