Serielle Entjungferungen

■ Mit Kids ist Larry Clark nahe an jugendlicher Befindlichkeit

Wenn man Kids gesehen hat, dann blickt man anders auf Jugendliche. An Spielplätzen hält man inne und nimmt eine Verteidigungshaltung ein, Skateboardfahrer werden als mögliche Aggressoren gesehen und der kleine Bruder mißtrauisch beäugt. Dabei ist Kids weit davon entfernt, besonders gewalttätig zu sein. Es gibt eigentlich nur eine wirklich brutale Szene, in der sich aber all die angestaute Energie einer Jugendclique derart zufällig und unmotiviert auf einen Passanten entlädt, daß es Großstadtbewohnern kalt den Rücken runterläuft. Mag das ein Vorgriff sein auf marodierende Jugendcliquen, die sich nicht an die Spielregeln der Erwachsenenwelt halten? Jedenfalls straft diese Szene den Satz des französischen Philosophen Lévinas Lügen, daß ein menschliches Gesicht die Aufforderung, du sollst nicht töten, enthalte. Aus allen Ecken des Platzes kommen kids angerannt und dreschen ohne Gnade mit ihren Skateboards auf einen Afro-Amerikaner ein. Das menschliche Gesicht wird zur Aufforderung zum Töten.

Ansonsten geht es in Kids aber um Spaß, ohne Geld auszugeben. Und das bedeutet in New York Ladendiebstähle, nachts in Schwimmbäder einsteigen, Skateboardfahren, über Sex reden und Sex machen. Dabei hat der spittelige Telly (Leo Fitzpatrick) einen besonderen Ehrgeiz: er entjungfert reihenweise Mädchen. Telly geht stets mit der gleichen Masche vor und brabbelt in Tennissocken stereotype Liebesformeln. Eine von ihnen ist ihm – ihr Motiv, der Motor der Handlung, soll hier verschwiegen werden – den ganzen Film über auf den Fersen, immer einen Schritt zu spät.

Mit Kids ist Larry Clark in seinem ersten Film ähnlich wie in seinen Photografien eine Inside-Aufnahme jugendlicher Befindlichkeit geglückt, die näher dran ist und es länger aushält mit Jugend als die meisten Filme, die vorgeben eine Generation zu portraitieren. Das liegt wohl daran, daß sich Clark seit Jahrzehnten mit Besessenheit dem gleichen Thema widmet, und dies fern aller sozialpädagogischen Ansprüche, vielmehr mit Teilnahme, ins Visier nimmt. Allein beim Soundtrack kann Clark nicht aus seiner Haut, seinem Alter. Der durchsichtige Noise-Folk von Daniel Johnston und Lou Barlow liegt doch arg neben der gewissenlosen Jugendlichkeit, die die Bilder entwerfen. Volker Marquardt