Schirm & Chiffre
: Schreibhemmungen in der Schnittstelle überwinden

■ Die Kunstmailbox The Thing organisiert gut postmodern die elektronische Gegenöffentlichkeit. Oder zumindest deren Mythos

Es ist eine dieser Geschichten, die man hätte erfinden müssen, wenn die Realität nicht schlimm genug wäre. Der Bankautomat stürzt ab, die Karte ist weg, und das Betriebssystem outet sich selbst als Microsoft Operating System. Wer wird da nicht zum Verschwörungstheoretiker?

Nachdem die elektronischen Kommunikationstechnologien bis hin zum EC-Automaten der Postbank also von Softwaregiganten und Medienkonzernen dominiert werden, ist das Wissen um kleine temporäre autonome Zonen im Cyberspace irgendwie beruhigend.

Einer dieser sozialen Orte ist The Thing, ein Verbund von Mailboxen, der seit 1991 mit Knoten in New York, Wien, London, Düsseldorf etc. existiert. Mailboxen gibt es seit der Erfindung des PCs, und The Thing funktioniert immer noch nach dem alten unspektakulären Prinzip, Kommunikationsschnittstelle zu sein. Hier gibt es keine aufwendigen Grafiken, sondern beinahe ausschließlich Texte.

Daß The Thing den Untertitel „Interactivities“ trägt, fällt in der Flut sogenannter interaktiver Angebote kaum mehr auf, ist in diesem Fall aber programmatisch gemeint und richtig: Wenn kein signifikanter Teil der BenutzerInnen aktiv wird, also Botschaften im System ablegt und sich an Diskussionen beteiligt, passiert hier nichts.

Das Ding (Einwahl via Modem: 2522112) funktioniert aber trotz der Schreibhemmungen, die Neulinge angesichts des akademischen Habitus mancher Beiträge befallen mag, und das liegt vermutlich am engen inhaltlichen Rahmen, den die Gründer vor vier Jahren in der ersten Thing- Box absteckten: Es geht um Kunst, Kultur und natürlich um den Einsatz von elektronischen Netzen als Träger neuer Kommunikationsstrukturen.

Hier wird die Postmoderne Wirklichkeit, wenn ein Dutzend Menschen an den verschiedensten Orten zusammen über Monate hinweg an einer Geschichte schreiben. Wenn alle AutorInnen sind, kann es schon mal passieren, daß der eigene Lieblingsprotagonist von einer MitschreiberIn gemeuchelt wird. Demnächst wird das Projekt Kollektives Schreiben ein zweites Mal im Poetry-Forum gestartet. Das Poetry-Forum ist nur eines von vielen. In der Berichte-Sektion zum Beispiel werden Nachrichten über aktuelle Veranstaltungen ausgetauscht. Die „Blitz-Reviews“ versorgen die TeilnehmerInnen als autonome publizistische Einheit innerhalb des Forums mit Informationen über Ausstellungen, an anderer Stelle stehen Texte aus der Kunstzeitschrift Springer zur Verfügung.

Für nächstes Jahr ist ein Symposium über Cyborgs geplant, in dessen Verlauf WissenschaftlerInnen über die Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine debattieren werden – von Nanotechnologien bis zu Cyberpunkvisionen à la Johnny Mnemonic. Thing-TeilnehmerInnen werden sich täglich in die Diskussion einschalten können – wenn das Projekt genügend finanzielle Unterstützung erhält. TT wird über die monatlichen Solidarbeiträge in Höhe von zehn Mark (nicht) finanziert.

Mit dem Expandieren der weltweiten, profitorientierten Online- Dienste und der zunehmenden Kommerzialisierung des World Wide Web stellt sich allerdings die Frage, inwieweit spartanische, auf dem geschriebenen Wort basierende Oberflächen in nicht ans Netz gekoppelten Mailboxen noch attraktiv sind.

User verlangen nach konsumierbaren Angeboten. Das Hin- und Herklicken in den Netzen könnte das Zapping bald als Medienkonsumform Nummer eins ablösen. The Thing Berlin bietet als Alternative zur bunten Warenwelt einzelne Foren inzwischen auch im WWW (http:// www.thing.de) an, die New Yorker sind inzwischen selbst zu Internetprovidern geworden.

Irgendwann könnten aber auch die hartnäckigsten Zapper feststellen, daß die Datenautobahn so langweilig ist wie ihr Name, und ihren Netzzugang wieder abbestellen. Oder aber sich den interessanteren Aspekten der elektronischen Kommunikation zuwenden.

Die Frage, ob die neuen Medien tatsächlich Raum für Gegenöffentlichkeit schaffen oder nur deren Mythos transportieren, wird wohl auch weiterhin ungeklärt bleiben. Einstweilen kann man sich in der sozialen Plastik Thing immer noch wohler fühlen als in der Zielgruppe. Ulrich Gutmair