Das elfte Gebot

Tu, was du nicht lassen kannst, aber tu es heimlich  ■ Von Julia Karnick

„Nur der Tod soll mich von dir scheiden.“ Das bekannteste aller Eheversprechen hat in der Bibel eine andere Bedeutung als für die meisten Frauen und Männer, die damit die Ehe beginnen. Dagmar Harmsen, Sprecherin der Initiative „Lesben in der Kirche“ (LiK), erklärt: Die Worte beschreiben die Liebe einer Frau zu einer anderen Frau. Die junge Witwe Ruth sprach sie zu ihrer Freundin und Schwiegermutter Naomi – Ruth habe beschlossen, Naomi „anzuhängen, genau wie ein Mann seinem Weibe anhängen soll“, glaubt Dagmar Harmsen.

LiK ist aus einer Ostberliner Gemeinde hervorgegangen. „Lesben und Schwule waren zu DDR- Zeiten in die evangelische Kirche integriert“, sagt Harmsen. Nach der Wiedervereinigung aber sei nur ein „kläglicher Rest Kirchen- Lesben“ geblieben: Die „politischen Lesben“ waren fortgegangen. Die Kirche signalisierte auch den frommen Frauenliebhaberinnen, daß sie sich eine andere Heimat suchen sollen: Die LiK mußte die Kirchenräume verlassen. Den Namen „Lesben in der Kirche“ behielten die Frauen bei: „Wir wollen die Kirche nicht aus ihrer Pflicht entlassen.“

Lesbische Pastorinnen, Gemeindehelferinnen, Kindergärtnerinnen, Diakonissen und Kirchenmitglieder müssen sich in der Grauzone protestantischer Unentschlossenheit zurechtfinden. Da gibt es die ledigen Pastorinnen, die sich – wie viele ihrer katholischen Kollegen – von der Haushälterin nicht nur den Haushalt besorgen lassen. Oder die Theologinnen, die in Sachsen nur dann ordiniert werden, wenn sie schriftlich versichern, ihre Partnerschaft nicht im Pfarrhaus zu leben. Die Diakonissen, die vertuschen müssen, daß sie nicht nur platonische schwesterliche Beziehungen haben. Für sie alle gibt es ein elftes Gebot: Tu, was du nicht lassen kannst, aber tu es heimlich!

Frauen, die so nicht leben möchten, bleibt eine Möglichkeit: in einer der liberalen Landeskirchen eine Gemeinde zu finden, die offiziell über das Liebesleben ihrer zukünftigen Hirtin informiert wird und es ebenso offiziell akzeptiert. Dagmar Harmsen weiß von Pastorinnen in Brandenburg und Berlin, die auf diesem Wege ihr Lesbischsein kirchlich legalisieren konnten. Doch der Seelen-Striptease hinterläßt Spuren: Wer den Kirchenvorstand um Erlaubnis bitten muß, mit seiner Partnerin zusammenziehen zu dürfen, für den gibt es kaum noch Privatsphäre. „Ich habe es allmählich satt, mich immer wieder zu diesem Thema äußern zu müssen“, erklärt eine lesbische Pastorin: „Ich bin einfach nur ich und nicht immer nur die Frau, die mit einer Frau zusammenlebt.“

Als einen Teilerfolg auf dem Weg in die Normalität feierte die LiK vor zwei Jahren die Aufnahme in die „Evangelische Frauenarbeit in Deutschland“ (EFD) – die Dachorganisation evangelischer Frauenverbände. Mit Zweidrittelmehrheit nahmen die EFD-Frauen die Lesben in ihre Organisation auf. „Die Diakonissen“, freut sich Harmsen immer noch, „hatten alle Arme hoch.“

Ein Ereignis, das bei der „Arbeitsgemeinschaft Katholischer Frauenverbände und -gruppen“ noch undenkbar ist: Dem katholischen Pendant zum EFD gehört keine einzige Organisation an, die sich mit Lesben beschäftigt oder gar deren Interessen vertritt.

„Sich in unserer Kirche zur Homosexualität zu bekennen ist eine Art Selbstmord“, faßt eine Mitarbeiterin der Deutschen Bischofskonferenz in Bonn, des obersten katholischen Gremiums in Deutschland, die Situation zusammen.

Die kirchliche Trauung wird Lesben und Schwulen bisher von beiden Volkskirchen verwehrt. Im 1995 neu erschienenen katholischen Erwachsenenkatechismus wird zwar die „Diffamierung homosexuell veranlagter Menschen“ verboten. Von der Schöpfungsordnung her könne Homosexualität jedoch nicht als eine der Heterosexualität gleichwertige Prägung angesehen werden, so die Bischöfe.

Auch die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) kann sich zur Zeit nicht dazu entschließen, homosexuelle Paare zu segnen. „Die geltenden kirchlichen Ordnungen sehen dafür keine Möglichkeit vor“, stellt Oberkirchenrat Helmut Zeddies, Leiter des Berliner EKD-Kirchenamtes, fest. Immerhin: In der evangelischen Kirche ist das Thema Homosexualität präsent. Im September hat sich die Nordelbische Landessynode – vergleichbar einem Kirchenparlament – in Hamburg unter dem Motto „Lebensformen“ auch mit den Lesben und Schwulen beschäftigt. Zwar wurden Beschlüsse auf März nächsten Jahres vertagt, doch ist seither ein offener Streit über die Trauung von Homosexuellen entbrannt. Synodenpräsidentin Elisabeth Lingner setzt sich dafür ein. Während die Hamburger Bischöfin Maria Jepsen dafür Verständnis zeigte, warnte Karl Ludwig Kohlwage, Bischof in Lübeck, das Thema Sexualität könne die Gemeinde spalten.

Noch vor wenigen Jahren standen bei den Diskussionen Männer im Mittelpunkt: Eine Arbeitsgruppe der Evangelischen Kirche von Westfalen konzentrierte 1989 ihre „Überlegungen auf die männliche Homosexualität, weil sie die Diskussion in der Kirche bestimmt“. Lesbische Liebe – nicht so anstößig und nicht so ernst genommen? „Sie war mir verständlicher in ihren Wurzeln, bisweilen sogar akzeptierbarer“, bekannte 1992 ein Ausschußmitglied der rheinischen Kirche: „Die Angst vor der männlichen Brutalität rechtfertigt nach meiner Auffassung durchaus auch die Suche nach einer anderen Form sexueller Befriedigung.“

1996 wird eine erste gemeinsame Erklärung aller evangelischen Gliedkirchen erwartet. Eine vom EKD-Rat einberufene „Ad- hoc-Kommission Homosexualität“ sucht seit zwei Jahren nach christlichen Wegen des Umgangs mit gleichgeschlechtlich Liebenden. Unter strenger Verschwiegenheit wird ein Positionspapier entwickelt. Der Rat wird darüber abstimmen, ob die Stellungnahme offiziell übernommen wird.