Der Panther im Käfig

Seit elf Jahren ist Peter Mannsdorff in psychiatrischer Behandlung und schreibt darüber. Während eines psychotischen Schubes steht die Schreibmaschine still  ■ Von Michaela Eck

Die Tür fällt hinter mir ins Schloß. Die Psychiatrieabteilung des Neuköllner Krankenhauses wirkt wie jede andere Krankenstation auch – steril. Erst auf den zweiten Blick registriere ich den riesigen bunten Stundenplan, der hier zur Orientierung hängt: Wecken, Frühstück, Gruppentermine, Mittagessen. Haarklein ist die Woche hier festgegehalten. Einzelne Gemälde schücken die kalkweißen Wände.

Peter Mannsdorff zieht mich energisch aus dem Eingangsbereich der Station in den „Palmengarten“. Er ist 38 Jahre alt und seit 11 Jahren in psychiatrischer Behandlung. „Neben der angestaubten Kreppapierpalme ist der öffentliche Telefonsprecher hier der einzige Lichtblick in unserem düsteren Dasein“, sagt er grinsend. Ansonsten komme er hier vor Langeweile um. Die Tabletten machten müde und schlapp, er fühle sich dumpf und leer, schreiben dürfe er nur zu bestimmten Zeiten. Ansonsten könne man hier den lieben langen Tag nur rauchen und telefonieren. Er sei jedoch freiwillig hier, betont er immer wieder. Sein Vater versorge ihn großzügig mit Zigaretten und Telefongroschen, doch mehr sei nicht drin, sagt er verschwörerisch. Am allerschlimmsten aber seien die Medikamente.

Seine Augen sind trüb und der Blick benommen. Er atmet viel zu schnell. „Ich bin ein wenig aufgeregt“, entschuldigt er sich und stürzt in Sekunden ein Glas Saft hinunter. Fahrig ordnet er die vor ihm liegenden Papiere. Seine Bewegungen sind ruckartig, ein wenig wie von Fäden gezogen. Schwer atmend lehnt er sich nach hinten. Lächelnd streicht er sich über seinen unglaublich dicken Bauch: „Ich bin schwanger. Das ist Claudines Vermächtnis.“

Claudine ist das Zentrum seiner Krankheit. Anfang der achtziger Jahre flieht Peter vor den überfüllten Hörsälen und den anonymen Seminaren nach Grenoble. Dort verliebt er sich in Claudine, die „Königin der Vorstadt“, wie er sie nennt. Seine Liebesgeschichte und den Ausbruch der Psychose beschreibt er in einem seiner Bücher, dem psychotischen Bildungsroman „Von der Zukunft umzingelt“.

Für Claudine ist das Leben ein Fest. Sie steckt ihn mit ihrer Lebenslust an, sie wird seine Göttin. Nur zu gerne wäre er wie sie. Aber da sind die Eltern und Freunde, die ihn warnen und ihm raten, Claudine auf Abstand zu halten. Da ist seine eigene Stimme, die immer wieder an sein Studium erinnert. Peter geht zurück nach Berlin. Claudine kommt nach. Wenn Peter mit Claudine zusammen ist, denkt er, er sollte lieber arbeiten. Wenn er arbeitet, möchte er bei ihr sein. Immer schneller wird der Strudel seiner Gefühle.

Nach vier Jahren leiden und hoffen und hoffen und leiden kommt es in Frankreich zum „Finale“. Dort will Peter seine Examensarbeit zu Ende schreiben. Gemeinsam mit Claudine fährt er nach Frankreich – in eine einsame und abgelegene Mühle. Er forscht und schreibt über Jules Valles, einen Journalisten, der mit seiner Zeitung L' Espoir den Weg für die Pariser Kommune von 1871 bereitet hatte. Doch Claudine ist gelangweilt und amüsiert sich mit dem Mühlenbesitzer. Das stürzt ihn endgültig in die Krise.

Es muß etwas geschehen! Wenn sie weiterhin in der Mühle bleibt, kommt sie nie mit mir nach Berlin. Kein Wunder! Oben auf dem Hang hat sie mir ihre Liebe erklärt. Da ließen die Strahlen der Hypnose nach. Hier unten in der Mühle ist sie wieder seine Sklavin*, schreibt er.

Er will die Realtität nicht mehr spüren und flüchtet in eine andere Welt. Peter beginnt zu phantasieren. Er wird zu Jules Valles, fühlt sich als dessen Reinkarnation. Er will die Revolution und moblisiert jeden, der ihm in die Quere kommt, sogar die Kommunistische Partei Frankreichs. Ziel seines Umsturzes ist es, seine Liebe, seine Göttin aus den Krallen des hypnotischen Zauberers zu befreien.

Tagelang konnte er nicht mehr schlafen. Seine Ängste und Wahnvorstellungen werden immer bedrohlicher. Er dreht vollkommen ab. Freunde bringen ihn in eine Klinik. Mit den Medikamenten findet seine aufgebrachte Seele endlich Ruhe. Ärzte stellen die Diagnose: schizoaffektive Psychose. Das war 1984 in Frankreich. Seit elf Jahren ist Peter Mannsdorff in psychiatrischer Behandlung. Immer wieder muß er für Wochen oder Monate in die Klinik. Seine Krankheit bricht in Phasen aus. In der Klinik wird dann versucht, den extremen Zuständen mit Medikameten die Spitze zu nehmen.

Das hier sei der beste Laden, wenn man sich an die Regeln halte und die Tabletten nähme, frotzelt Peter Mannsdorff. „Fügt man sich in den Krankenhausalltag und befolgt immer brav die Anweisungen, sind Schwestern, Ärzte und Pfleger zuckersüß.“ Leiste man aber Widerstand, könne es hier sehr unangenehm werden. „Schau dich doch mal um, all diese Tablettenleichen hier auf der Station“. Er macht eine großzügige Armbewegung, mit der er fast sämtliche Gläser und Aschenbecher vom Tisch abräumt. Seine Mitpatienten schauen ihn betroffen an. Zustimmung, aber auch Ablehung findet sich in ihrem Blick.

Die gefürchteten Psychopharmaka haben Namen wie Fluranxol, Lithium, Tegretal oder Neurocil. Pfundweise habe man sie ihm in den vergangenen elf Jahren verabreicht, entweder in Form von Spritzen oder als Tabletten. Die Medikamente haben ihn gezeichnet. Doch trotz der Medikamente ist er unruhig. Immerfort muß er sich bewegen.

Neurocil oder Fluranxol sind stark wirkende Neuroleptika, ersteres gibt man bei Schlafstörungen. „Normale Schlaftabletten helfen bei psychotischen Zuständen gar nicht mehr“, erklärt ein Psychiater. In solchen Zuständen könne man Schlaftabletten röhrchenweise schlucken. „Um diese Unruhe und Ängste in den Griff zu bekommen, helfen oft nur noch Neuroleptika, die haben aber fatale Nebenwirkungen und können zu nicht reversiblen Schäden führen.“

Neurocil mache benommen, hemme die intellektuelle Leistungsfähigkeit, wirke sehr stark auf die Bewegung und könne zu unheilbaren Bewegungsstörungen führen. Es komme schon vor, räumt er ein, daß in Krankenhäuser oft recht hoch dosiert wird. Aber einer handfesten Psychose sei mit Gesprächen oder anderen Therapieformen oft nicht beizukommen, so der Psychiater Dieter Lehmkuhl. „Neuroleptika heilen nicht, sondern unterdrücken lediglich die Symptomatik“, räumt er ein, „und dämpfen das Erleben.“ Doch es sei erwiesen, daß psychotische Symptome wie Wahnideen und Halluzinationen besser würden.

Der Tagesablauf in der Klinik ist öde und eintönig. Für die Patienten gibt es wenig Abwechslung, und Peter läßt nichts unversucht, seinen Tag selbst zu gestalten. Er erzählt von seinen medialen Ideen, dem Zeitungsprojekt, dem Tagesspinner. Sowie Jules Valles mit dem L' Espoir den Boden für die Pariser Kommune bereitete, so werde auch der Tagesspinner die Welt zum kommunisitischen Weltfrieden führen. Wir haben Ideen, aber – noch – kein Geld. Doch wir glauben mit Jacques Brel an die Kraft der Liebe, und hat man nur noch die, so singt der belgische Franzose, trägt man die ganze Welt auf den Armen ...*, schreibt er.

Er ist das Enfant terrible der Station. Er sprüht nur so von Ideen. Sein drittes Buch mit dem Titel „Kind ohne Meinung“ ist in Arbeit. Während seiner akuten Phasen kann er nicht arbeiten. Das Buch muß warten, bis er wieder zu Hause in seiner betreuten Wohngemeinschaft ist. Dort kann er dann wieder Tage und Nächte seine Gedanken in den Computer hämmern – bis zur nächsten Krise.

Auch hier auf der Station hat er eine Schreibmaschine, doch es wird sehr genau darauf geachtet, daß er nur ein paar Stunden am Tag schreibt. Denn in den manischen Phasen seiner Krankheit neigt er dazu, sich zu überforden. Die Depression folgt dann auf stehendem Fuße.

Manischen Phasen seien für die Patienten längst nicht so quälend wie die depressiven. „Sie fühlen sich lebendig, wach und kreativ. Mit ihrer Überzeugungskraft können sie anderen auch noch so absurde Ideen absolut pausibel machen“, erklärt ein Psychiater. „Auf den ersten Blick wirken sie gar nicht krank.“ Das merke man erst später, wenn die Logik löchrig oder brüchig wird und er von einem Thema zum anderern springt. Der Absturz, der auf solch eine manische Phase folge, sei weitaus unangenehmer. Seit einem Monat ist Peter schon im Krankenhaus. Wie lange er noch bleiben muß, ist ungewiß.

*Peter Mannsdorff: Von der Zukunft umzingelt. Ein psychotischer Bildungsroman. Psychiatrie-Verlag/Herder-Verlag.