Menschen mit geistiger Behinderung bleiben auf der Strecke

■ betr.: Pflegeversicherung

Als Mutter eines geistig und körperlich schwer behinderten Kindes bitte ich Sie heute um Hilfe. Meine Tochter Christine ist zwölf Jahre alt. Die ersten Jahre habe ich sie selbst betreut, aber ich war zunehmend überfordert, bis ich selbst keinerlei Kraft mehr hatte. Damals, vor neun Jahren, war ich sehr, sehr froh, daß sie in einem sehr guten kirchlichen Heim aufgenommen wurde, in Neinstedt, Sachsen Anhalt.

In der DDR galt Tini als „nicht bildungsfähiger Pflegefall“. Trotzdem wurde in dem Heim sehr, sehr viel versucht und gemacht. Nach der Wende sollte Tini, die nicht sitzen, geschweige denn laufen kann, die nicht allein ißt und keinerlei Worte spricht, plötzlich zur Schule gehen. [...] Ich besuche mein Kind, so oft es nur geht – und ich habe zunehmend gemerkt, wie wichtig ihr die Schule wurde. Inzwischen wartet sie jeden Morgen darauf. Was wir nicht mehr zu hoffen wagten: Tini kann seit fünf Monaten sitzen!

Weshalb ich mich jetzt an Sie wende, ist eine ganz konkrete Angst. Sie haben soviel über die Einführung der neuen Pflegeversicherung geschrieben, und auch ich habe sie immer als Gewinn gesehen.

Nun aber mußte ich erfahren, daß sie für Menschen wie meine Tochter ins absolute Gegenteil umschlagen kann. Bisher trugen die Sozialämter die Kosten für den Pflegeplatz. Wir Eltern zahlten zu, so gut wir es vermochten. Im Zuge der Einführung der 2. Stufe des Pflegegesetzes zum 1. 7. 1996 entstehen zwischen Sozialämtern und Pflegekassen Streitigkeiten, wer künftig für die Kosten der Betreuung von Menschen mit geistigen und psychischen Behinderungen zuständig ist. Das Ergebnis ist, daß bereits jetzt ein Kostenminimierungsprogramm anläuft. Die derzeit praktizierte „lebensbegleitende Pflege“ wird umgewandelt in eine „bewahrende Pflege“. Konkret heißt das: alle Förderung entfällt, keine Spaziergänge, kein Urlaub, keine Ausflüge, wahrscheinlich auch keine Schule. Entscheidend ist nur, daß die Aufrechterhaltung der körperlichen Funktionen gewährleistet ist.

Das wäre eindeutig ein Rückschritt ins 19. Jahrhundert, in dem Behinderte in Krankenhäusern und Siechenheimen verwahrt wurden. Schon jetzt werden in Neinstedt bestehende familienähnlich geführte Gruppen auseinander gerissen, um Kinder- und Jugendbereiche aufzubauen. Unabhängig vom geistigen Entwicklungsstand und lange gewachsenen Bindungen muß bei Erreichen eines bestimmten Alters der Wechsel in einen anderen Bereich erfolgen. Für Kinder wie meine Tini eine Katastrophe. Selbstverständlich wären dann auch viele Arbeitsplätze im Bereich der Behindertenförderung und -betreuung in Gefahr.

Es kann doch nicht sein, daß wir nun alle Beiträge zur Pflegeversicherung leisten und dabei selbst ganz bestimmt auch besser abgesichert sind. Menschen mit geistigen Behinderungen aber, jene, die nicht für sich selbst kämpfen können, bleiben auf der Strecke!

Ich habe große Angst um meine Tochter. Ins Grundgesetz wurde doch gerade erst ein Paragraph zur Nichtbenachteiligung behinderter Menschen aufgenommen. Wie verhält es sich damit? Können Sie mir helfen? Oder kann ich über Sie andere Angehörige und Betreuer in ähnlicher Lage aufrufen, damit wir gemeinsam eine Initiative gründen, die sich dagegen wehrt? Christiane Baumann

Zuschriften bitte an die „taz-LeserInnenbriefred., Postfach 610229, 10923 Berlin“. Wir leiten diese an Christiane Baumann weiter.