„Fummeln“ ist das wichtigste Wort

Die Waage und der Taschenrechner sprechen, ohne den Labrador führt kein Weg durch die Stadt, und die Sehenden schauen oft nicht genau hin. Das Ehepaar Seiler lebt in Holzminden – blind  ■ Von Barbara Bollwahn

Ein Mann und eine Frau mit dunklen Sonnenbrillen betreten den Supermarkt. Ohne nach rechts und links zu sehen, drängen sie sich mit ihrem schwarzen Labrador durch die Eingangssperre und steuern den Gemüsestand an. Die Frau läßt ihre Hände über Tomaten, Gurken und Bananen gleiten, greift dann die Bananen. „Mach den Rucksack auf“, sagt sie zu ihrem Begleiter, der sich ängstlich umschaut, „komm, stell dich nicht so an.“ Widerwillig öffnet der Mann den Rucksack und läßt die Bananen und einen Salatkopf verschwinden. Im nächsten Gang folgen Zwieback und Nudeln. An der Käsetheke steckt er vor den Augen der Verkäuferin das große Käsepaket ein.

Doch an der Kasse reiht sich das Paar in die Schlange ein. „Mach den Rucksack auf“, sagt die Frau wieder. Ihr Mann legt Nudeln, Bananen und Käse auf das Laufband. Seelenruhig bezahlt sie – wie alle anderen auch. Die beiden sind keine Ladendiebe. Angela und Hans-Dieter Seiler sind blind. Ein Einkaufswagen würde sie nur behindern.

Als sie den Supermarkt verlassen, ist es fast dunkel. Der 53jährige drückt auf einen Knopf an seiner Armbanduhr. „18 Uhr 5“, sagt eine Stimme wie aus dem Weltall. Mit der linken Hand faßt er nach der kurzen Kordel, die ihn mit seiner Frau verbindet. Auch den Blindenstock hält er links. In der rechten Hand hat er das Führungsgeschirr von Blindenhündin Maxi.

„Such Ampel“, befiehlt Hans- Dieter Seiler der Labradorhündin. Als Maxi am Straßenrand stehenbleibt, drückt seine Frau den Knopf. Ein Summton: Grün. Mitten auf der Straße schrecken die Seilers zusammen. Lautes Hupen von einem Auto, das sehr nahe stehen muß. Keiner sagt den Blinden, daß der Fahrer einen Bekannten grüßt.

Hans-Dieter Seiler und seine 38jährige Frau kennen ihre Einkaufsroute durch Holzminden aus einem abtastbaren Stadtplan und Beschreibungen von Hörkassetten. Um Werbetafeln vor Geschäften, lässig geparkte Räder und Baugruben führt sie Maxi herum – wenn Gefahr droht, stellt sich die Hündin quer. Nichts tun kann sie aber, wenn Autofahrer den Blindenstock und das Hundeführgeschirr einfach ignorieren: „Manchmal haben wir das Gefühl, Michael Schumacher ist zu Besuch.“

Der Einkauf hat lange gedauert. Die Seilers kommen erschöpft in ihre Wohnung, drei Zimmer im vierten Stock eines Mietshauses, das in der Nähe des Bahnhofs liegt. Das häufigste Wort im Hause Seiler ist „fummeln“. Will Angela den Tee – ein Muß nach jeder Einkaufstour – vier Minuten ziehen lassen, „fummelt“ sie an der plastischen Zeitskala der Teemaschine. Will das Ehepaar wissen, „wo auf der Welt sich die Menschen gerade die Köpfe einschlagen“, ertasten sie Kontinente und Länder auf ihrem Reliefglobus. Der Wohnungsschmuck muß zum Anfassen sein wie die zahlreichen Zinnteller, die Holzfiguren und die Tischkerze mit betenden Wachshänden.

„Gott gab die Zeit, von Eile hat er nichts gesagt“, steht auf einem Bild im Flur – als hätten die Seilers in ihrem tastenden Alltag eine andere Wahl. Das Kochen dauert seine Zeit, „aus Sicherheitsgründen“, kommentiert Hans-Dieter. „Wo ist der Käse?“, fragt er seine Frau. „Na hier“, antwortet sie ihm und schiebt die Schüssel in seine Richtung. „Du mußt mal fummeln, ob das genug ist“, sagt er, nachdem er einige Schichten Nudeln und Käse in die Auflaufform gefüllt hat. Den Paprikastreuer erkennt Angela an seiner Paprikaform. Unterbrochen werden die beiden, während sie in ihrer winzigen Küche hantieren, nur von der sprechenden Küchenwaage. „Bei uns quatscht alles“, sagt Hans-Dieter, „nur der Hund nicht.“

Hans-Dieter Seiler kam blind zur Welt. Als er sechs Monate alt war, heilte eine Operation den Grauen Star auf seinem rechten Auge, eine zweite am linken Auge war geplant. Doch das war 1942, und der jüdische Arzt in München durfte nicht mehr praktizieren. Zwei Operationen nach Kriegsende verliefen erfolglos. Seiler blieb auf das hochgradig kurzsichtige rechte Auge angewiesen. Als er die Handelsschule beendet hatte, löste sich die Netzhaut, und er erblindete vollends.

Es ging ihm schlecht damals. Er brauchte Jahre, bis er sich zu einer Umschulung zum Phonotypisten entschloß. Mit einer „glatten Eins“ schloß er sie ab. Aber niemand wollte ihn. Erst als sich der damalige Bürgermeister Holzmindens einschaltete, fand sich ein Arbeitgeber, ein Mann, dessen Tochter durch einen Tumor erblindet war und mit einer Operation im Ausland geheilt werden konnte. Vor einigen Jahren reichte Hans-Dieter die Rente ein, Herz und Kreislauf machten nicht mehr mit. „Als er sie dann so schnell bekam“, sagt seine Frau, „wußte er, wie schlimm es um ihn steht.“ Angela geht nach wie vor halbtags arbeiten.

Die Erinnerung an das Leben als Sehender und das Grübeln darüber, daß vielleicht alles hätte anders laufen können, treibt dem Mann die Tränen in die Augen. Seine Frau streicht ihm über den Arm. „Er kommt immer noch nicht damit klar.“ Sie flüstert, damit er sie nicht hören kann. Hans- Dieter ist außerdem schwerhörig. Wenn er verzweifelt, wenn er sich am liebsten auf den Boden schmeißen würde, dann macht er die Tür seines Arbeitszimmers hinter sich zu und jagt seine Modelleisenbahn über die Minigleise: „Ich kann mich nicht ins Auto setzen und auf die Autobahn brettern.“

Angela Seiler hört Märchenkassetten und setzt sich zu ihren Puppen, wenn sie „fertig ist mit der Welt“. Sie scheint die Stärkere zu sein in dieser Beziehung, die, die antreibt, die, die von ihrem Mann sagt, er sei verhätschelt worden, von seiner Mutter und von seiner ersten Frau, einer Sehenden: „Er wurde von ihnen regelrecht im dunkeln gelassen“, sagt Angela Seiler. Sie brachte ihm bei, wie man den Zahnputzbecher füllt und den Fernseher bedient, „Schwerstarbeit“, sagt sie. Auch jetzt, nach zwölf Jahren Ehe, „scheucht“ sie ihn gelegentlich. Es ist vorgekommen, daß sie die Schwiegermutter vor die Tür gesetzt hat, wenn die ihr „Hänschen“ mal wieder bemuttern wollte.

Angela erblindete, als sie drei war, die Folge einer Hirnhautentzündung. „Mit zehn Jahren war ich erwachsen“, sagt sie. Ihre Mutter war immer krank, sie mußte selbständig sein: „Ich wurde ins kalte Wasser geschmissen.“

Es sind die Sehenden, die Blinden den Zugang zu ihrer Welt aus Absicht oder Gedankenlosigkeit verweigern. Auch wenn sie andererseits jemandem wie Hans-Dieter Seiler das Bundesverdienstkreuz verleihen, weil er ehrenamtlich für die Tonbandzeitung arbeitet. Im „normalen“ Leben indes werden Seilers nicht selten aus Geschäften rausgeschmissen. Oft wird ihnen in öffentlichen Gebäuden verboten, den Hund mitzunehmen. Dann stehen sie vor der Frage, ob sie das 22.000 Mark teure Tier, auf das sie sich absolut verlassen können, in fremde Obhut geben sollen. Daß vor der Tür abgestellte Sachen verschwinden, fremde Hände den Blindenstock festhalten, gehört ebenso zum Alltag wie „das heitere Personenraten“ auf der Straße: „Ratet mal, wer ich bin ...“

Verständnis bringen Seilers auf, wenn Sehende schlicht Fehler machen. „Wer denkt schon daran, beim Verlassen unserer Wohnung das Licht auszuknipsen?“, sagt Hans-Dieter. Nachdem sie mehrmals tagelang „Festtagsbeleuchtung“ hatten, haben sie einige Lichtschalter mit abtastbaren Markierungen versehen. Hilfsmittel, vor allem solche, die auf Knopfdruck funktionieren, bedeuten Selbständigkeit. Der sprechende Taschenrechner läßt sie nur im Stich, wenn die Batterien leer sind. Versagt das Sprachmodul, das ihnen alles Gedruckte vorliest, was sie unter den Scanner legen, tastet sich Hans-Dieter zum Telefon und sagt den Handwerkern, daß er „glaubt“, daß etwas kaputt ist. Er ist vorsichtig. Genau wissen kann er es nicht. Dazu müßte er nachgucken können. Es kann schlimm sein, wenn man nicht nachsehen kann.

Diesen Sommer im Allgäu war das schlimm. Hans-Dieter bekam plötzlich keine Luft mehr. Angela war einem Nervenzusammenbruch nahe. „Als er aufhörte zu atmen, bekam ich Panik. Ich kann ihm ja nicht ins Gesicht sehen!“ Hans-Dieter Seiler bekommt schon Panik, wenn Maxi Durchfall hat oder sich erbricht. Dann behält Angela die Nerven. Sie „fummelt“ in Maxis Maul, um zu sehen, was das Tier aufgenommen hat. Wenn sie dann merkt, daß es nur Hundescheiße war, wischt sie klaglos die Finger ab und ist froh, daß die Angst umsonst war.

Eine ausdrückliche Aufforderung zum Anfassen bekommen Seilers sehr selten. Aber wenn, dann kosten sie sie aus. Als sie vor einigen Jahren im Wachsfigurenkabinett in London waren, nahmen sie sich ein paar Stunden Zeit, um jede Uniform, jede Perücke und jede Paillette zu bewundern. Hans-Dieter Seiler erfüllte sich einen langgehegten Wunsch und klopfte dem ehemaligen sowjetischen Partei- und Regierungschef Gorbatschow auf die Schulter. Seine Frau ertastete das Gesicht und das kostbare Kleid von Alexis, dem Biest aus der Dallas-Serie.

Das Ereignis wurde auf Video festgehalten, in Bild und Ton. Im Wohnzimmer in Holzminden hört sich Hans-Dieter, wie er in London zu dem Schurken J.R. Ewing sagt: „Endlich treffen wir uns mal“, baut sich vor der Figur aus Wachs auf: „Ich habe alle deine Filme angehört.“ Mit seinen Fingern fährt er J.R. über die Hutkrempe. Diesen Ellenbogentyp könnte man doch fragen, wie man sich gegen die Bosheit der Welt zur Wehr setzt, der sehenden Welt insbesondere: „Die Menschen wollen einem immer Böses“, sagt Hans-Dieter, „gib mir mal einen Rat.“ J.R. schweigt.

Urlaubserinnerungen auf Band gibt es nur, wenn Seilers in Begleitung von Bekannten reisen, die sehen können. Und nur aus Rücksicht auf die Sehenden hat es sich Hans-Dieter Seiler bisher verkniffen, die Kamera selbst in die Hand zu nehmen. „Findet ein Blinder ein Schlüsselloch, wird an seiner Blindheit gezweifelt“, beschreibt er das Dilemma, „findet er es nicht, ist er blind und blöd.“ „Wir leben in der Welt der Sehenden und haben uns einzufügen“, meint Angela dazu. Sie besitzt ein Tandem, das im Keller vor sich hinrostet – nur weil sie keinen sehenden Mitfahrer findet.