"Unser Pfund ist die Phantasie"

■ Die diesjährigen Buchwochen stehen unter dem Motto "Im Fahrstuhl des Jahrhunderts". Warum? Und wie läuft das Geschäft? Ein Gespräch mit dem Mitveranstalter Rainer Nitsche vom Transit-Verlag

Bis 26. November finden die vierten Berlin-Brandenburgischen Buchwochen statt. Das Motto lautet „Im Fahrstuhl des Jahrhunderts“. Damit macht der Verband der Verlage und Buchhandlungen den Versuch, über den Tellerrand der „Wechseljahre“ (Motto 1993) hinwegzuschauen.

Mit ihren acht Schwerpunktveranstaltungen zu den letzten sieben Jahrzehnten hat sich das Grüppchen, das seit 1992 die alljährliche Veranstaltungsreihe vorbereitet, viel vorgenommen – der kleine Zirkel, sechs Leute aus eher kleineren Verlagen und Buchhandlungen, zu denen Ruth Klinkenberg (von Marga Schoeller) gehören oder Günther Bluhm, der einstige Verlagsvertreter und heutige Geschäftsführer des Verbandes, wollen von Berlin-Brandenburg aus als erste den Blick zurückwerfen auf das ganze ausgehende Jahrhundert.

Auf den beiden Standbeinen der Buchwoche – Dezentralität und ein gewisses Maß an Populismus – bleibt man gleichwohl stehen. Zukünftige Käuferkreise winken, die Grenze von 5.000 BesucherInnen soll mit den 111 Lesungen in diesem Jahr endlich überschritten werden. Die besondere Berücksichtigung der ländlichen Regionen – „Kultur in Laufweite“ – hat eine nicht ganz unsympathische Provinzialität zur Folge, die vor allem in der unausgegorenen Programmischung zum Ausdruck kommt.

Neben Alexander Tišma, dem Guru Neil Postman (bei Kiepert) oder einer Buchpremiere Friedrich Gorensteins finden sich Lesungen aus „Ossis, rettet die Bundesrepublik“ oder „Die produktive Kraft der Unfreiheit“ von einem gewissen Hegel, Ralf (in Prenzlau), außerdem Einheitsfrust, Spinnenfaxereien und Wagenbach mit seinem dreißig Jahre toten Autor Bobrowski in Friedrichshagen.

Rainer Nitsche gehörte von Anbeginn zu dem erlesenen Kreis der Ausrichter. Der umtriebige Verleger des Transit-Verlages im Kreuzberger Mehringhof war nach 1989 einer der ersten verlegerischen Grenzgänger und hat was übrig für den direkten (Kneipen)-Kontakt zu (potentiellen) Autoren.

Mit dem Weststar Ulrich Wickert und den Collagen aus Honeckers Briefen hat er sein Glück gemacht, Autoren wie Heinz Knobloch, Peter Wawerzinek, Tilo Köhler haben sich nach der Wende bei ihm zum ersten Mal in den West-Vertrieb eingeschleust.

taz: Die Berlin-Brandenburgischen Buchwochen sind dazu da, das Vorweihnachtsgeschäft anzuregen. 1992 klagte der Verband der Verleger und Buchhändler noch über rückläufige Umsatzzahlen, sinkendes Kaufinteresse und steigende Gewerbemieten. Wie geht es dem Literaturbetrieb? Hat er Belebung nötig?

Rainer Nitsche: Es geht uns mit den Buchwochen nicht primär um die Belebung eines Geschäfts. Es geht um den kulturellen Austausch zwischen Berlin und Brandenburg, denn hier wird immer noch gefremdelt. Zum Kulturbetrieb ist zu sagen, daß das Klagen wie in der Landwirtschaft zum Geschäft gehört. Die Situation hinsichtlich der Gewerbemieten ist nicht so dramatisch, wie sie nach 90/91 ausgesehen hat. Der Immobilienmarkt hat sich so weit entschärft, daß es gerade in Ostberlin, Prenzlauer Berg oder Mitte, zur Zeit eine ganze Anzahl von Buchhandlungsneugründungen gibt.

Die neueste, die ich kenne, ist die Georg-Büchner-Buchhandlung in Prenzlauer Berg. Die ist von Köln nach Berlin umgezogen: eine völlige Kuriosität; es gibt sonst nichts Ignoranteres als Rheinländer, was die deutsch-deutschen Entwicklungen betrifft. In der alten Westcity hingegen wird es schwierig. Das hat mit den Mieten, aber auch mit der Abwanderung von Käufern zu tun. Der Savignyplatz, der zu guten alten Westberliner Zeiten das kulturelle Zentrum war, wird nun zum Westberliner Museum. Aber das ist eine spezielle Situation.

Im Land Brandenburg hat sich die Lage stabilisiert, die Findungsphase ist abgeschlossen, es gibt Buchhandlungen, die im Sortiment sehr anspruchsvoll und nach außen gewandt sind. Die wuchern mit dem einzigen Pfund, das wir haben, mit der Phantasie.

Als gute Spione halten die Verlagsvertreter die Beziehung zwischen Verlag und Buchhandel aufrecht. Mit welchen Tendenzberichten kommen sie von den Herbsttouren durch die Berlin-Brandenburgischen Buchhandlungen zu Ihnen zurück?

Die Spaltung zwischen Ost/ West scheint erfreulicherweise abzunehmen, aber sie ist noch da. Natürlich stehen auf der Bestsellerliste Ost die blöden Sprüche von Gregor Gysi noch relativ weit oben, während sich im Westen Gott sei Dank kaum jemand dafür interessiert. Aber die gehässige Vermutung, ostdeutsche Leser interessierten sich nur noch dafür, wie sie sich am billigsten scheiden lassen können, kann widerlegt werden. Hier werden inzwischen wieder mehr Bücher pro Kopf gekauft als in den alten Bundesländern. Und zwar keine Ratgeber.

Dem Verband der Verleger und Buchhändler steht für die Organisation der Buchwochen ein Etat von 160.000 Mark zur Verfügung. Gut drei Viertel davon kommen aus der öffentlichen Hand. Wofür geben Sie das Geld aus?

Na, das kommt zum ersten den Autoren zugute. Alle Honorare werden aus diesem Topf bezahlt. Das kommt indirekt natürlich auch den Buchhandlungen zugute, die etwas veranstalten. Es ist also eine Subvention, die Aktivitäten und nicht Stillstand fördert. Den Lesern kommt die Sache vor allem in den sehr kleinen Orten im Land Brandenburg zugute, weil sie mit Autoren in Kontakt kommen, die da ohne die Buchwochen wohl kaum hinkämen. Wir zahlen auch die Reisekosten, selbst für unsere ausländischen Autoren. Außerdem machen wir weitgestreut Werbung, wobei wir auch viel mit dem ORB zusammenarbeiten, der sich im Unterschied zur lahmen Tante SFB als sehr beweglich erweist.

Entsprechend der Anzahl der Buchhandlungen (200 in Berlin, 100 im Land Brandenburg) findet ein Drittel der Lesungen nicht in Berlin, sondern in der Provinz statt. Was sagen denn Autoren wie Peter Wawerzinek dazu, wenn sie nach Gransee sollen?

Sehen Sie, Autorenlesungen sind bestimmt die altmodischste Form der Unterhaltung. Aber damit auch die erste Form von Unterhaltung überhaupt. Die Stimme war das erste Unterhaltungsinstrument – noch vor Homer. Das bewährt sich immer wieder und hat was Rührendes. Ein jüngerer Autor, der aus dieser eher umtriebigen, angegrauten und deformierten Umgebung Berlin in die neugierige Welt der Kleinstadt kommt, macht neue Erfahrungen. Die Leute kommen gezielt – der Lehrer, die literaturinteressierte Bauersfrau, der Bürgermeister vielleicht, und die Handarbeitslehrerin sitzt meistens auch noch da.

Das ist ein wunderbares Publikum, und da kommt es dann zu solch schönen Fragen wie der, von der Knobloch mir mal erzählt hat: „Was machen Sie denn, Herr Schriftsteller, wenn Ihnen überhaupt nichts mehr einfällt?“ Es gibt so direkte, hakige und sperrige Fragen, auf die man im großstädtischen Kulturbetrieb gar nicht kommt.

Das Motto dieser vierten Buchwochen lautet „Im Fahrstuhl des Jahrhunderts“. Klingt bißchen wie „Fahrstuhl zur Hölle“ – ein Horrorszenario. Christa Wolf mochte sich auf der Eröffnungsveranstaltung im Berliner Ensemble denn auch nicht damit identifizieren. Sie sagte, wir seien doch Täter und Zeugen, wir seien doch Mitleidende dieses Jahrhunderts, wir führen doch nicht im Fahrstuhl hoch und runter und guckten uns das von außen an.

Im Fahrstuhl sind auch Fahrstuhlführer. Das Bild ist höchstens das, daß man dem Leser, wenn sich der Fahrstuhl bei einer Station öffnet, den Blick auf diese Etage, dieses Jahrhundert freilegt. Und das ist die Funktion der Literatur, und das ist auch der Sinn dieses Titels.

Durch Harry Mulischs Auftritt bei dieser Eröffnungsveranstaltung tauchte zugleich die entgegengesetzte Frage auf: Er outete nämlich seinen Roman „Das Attentat“ als Abfallprodukt. Während der Arbeit an einem anderen Roman mußte er sich schnell zweier Obsessionen entledigen: Ein elternloses Kind mußte untergebracht und das Prinzip des Leichentauschs zwischen vier Einfamilienhäusern wollte erfüllt sein. Auf diese Weise entstand der holländische Schlüsselroman der Nachkriegszeit. Kann man unter der Voraussetzung Lesungen noch als literarische Spiegelungen ihres Jahrhunderts präsentieren?

Ja gerade! Das sind ja Höhepunkte, wenn ein Autor so unbefangen über seine eigenen Sachen reden kann und nicht mit der Aura desjenigen erscheint, der ein von vornherein ganz fertiges Werk im Kopf hat, und seine künstlerische Arbeit darin besteht, dieses fertige Werk zu Papier zu bringen. Mulisch hat eine sehr lakonische Art, über seine Bücher zu reden und gleichzeitig einen Einblick zu geben in die Werkstatt eines Schriftstellers.

Diese Geschichte um den von Widerstandskämpfern erschossenenen Gestapo-Mann, der von einem Haus zum anderen getragen wird, weil man wußte, daß die Bewohner des Hauses, vor dem die Leiche liegt, alle hopsgenommen oder umgebracht werden, gehört gerade zu den kleinen in der großen Geschichte, wie sie zum Beispiel auch bei Bober, Mostowicz oder Louis Begley zu finden sind.

Diese kleinen Geschichten bleiben haften, und ich glaube, sie sind jetzt erst, vierzig Jahre danach, – schreckliches Wort: schreibbar. Wobei natürlich „Jakob der Lügner“ für alle diese Geschichten das ganz frühe Vorbild war. Eigentlich können die Autoren jetzt erst mit dem Mittel des Erzählens so differenziert vom Schrecken berichten.

Die Kommunikation auf Lesungen ist fast immer, fast notwendig gestört. Das Publikum kommt, um zu identifizieren (sich mit dem Autor, den Autor mit seinem Text, den Text mit dem Fahrstuhl des Jahrhunderts), der Autor, gekommen, um ein Feedback auf seine Schreibtischarbeit zu bekommen, lehnt sich erschreckt zurück und ruft: Ist doch nur Kunst! Welchen Erkenntniswert gestehen Sie, der hier gerade hundert Lesungen organisiert, Lesungen denn zu?

Also Erkenntniswert erst mal gar nicht. Im Vordergrund steht der Unterhaltungswert. Im weitesten Sinne. Es muß eine Spannung entstehen, weil der Autor auf anregende Art einen lesbaren Text präsentiert. Natürlich gibt es Lesungen, die eher Zwangsveranstaltungen gleichen. Ein Autor liest, der offensichtlich gar keine Lust dazu hat, der es nicht kann oder der Angst hat vor dem Publikum – alles ehrenhafte Haltungen, aber damit kann man keine guten Lesungen machen. Ein Text muß zu der Buchhandlung und zu ihrem Publikum passen, und die Autoren müssen so lesen können, daß der Vortrag selbst einen zusätzlichen Reiz bietet. Interview: Fritz v. Klinggräff