Nur der Fisch vereint sie alle

■ Viele stehen auf Sylt. Ein Buch erzählt Geschichten zur Geschichte der Insel

Touristenebbe auf Sylt, die Strandkörbe sind im Schuppen. Bis Weihnachten ist erst einmal gut ruhen, die Sommerflut hat die Konten gefüllt. Wie ein warmer Regen kam er mal wieder, der Tourismus. Jetzt rückt man zusammen. Bei Teepunsch, Grog oder Glühwein in der warmen Stube tauen sie auf, die Insulaner. Vor allem die Alten, da erzählen sie wieder. Geschichten schichten sich zu Geschichte auf. Von unten nach oben. Denn die Geschichte einer Insel läßt sich nur von unten schreiben. Mit Geschichten erzählt und notiert, bevor sie zu Legenden werden.

Sylt-Reisebücher liegen vor, nützliche Handbücher, tauglich für den ersten Besuch, für die Oberfläche, für einen Streifzug durch die Gegenwart der Insel. Wer nicht nur wissen will, an welcher Bune er sich morgen bräunt, wo er seinen Hummerhunger stillt und an welcher Bar es sich am besten balzt – sondern auf welcher Insel er wandelt, den verlangt es spätestens am dritten Regentag nach Hintergrund und Untergrund. Den liefert jetzt der Autor Karl H. Walloch in seinem „Sylt-Lesebuch“. Erste Botschaft: Trotz Dünen und Dünung, trotz Dunsein und Dunst – diese Insel ist nicht auf Sand gebaut: Ihr Kliff war hart genug, den Jahrhundertstürmen zu widerstehen. Und ihr Sockel solide genug für Kurbauten und Hotels. (Die Badeepoche begann hier im Jahr 1855.) Sylt war auch standhaft genug für Preußens Gloria und Hitlers Heil: 1914 wurde die Wenningstedter Heide zum Exerzierplatz, das Hotel „Deutscher Kaiser“ Sitz der Militärkommandatur. In List landeten und starteten die Marineflieger.

Als Hindenburg den Eisenbahndamm einweihte, war Sylt angeschlossen ans Festlandsreich. Ein strategisch wichtiger Zug: weniger für den Fremdenverkehr der Weimarer Zeit als danach für die Herren von „Kraft durch Freude (KDF). Und für ihre Nazifizierung der Insel: Seit März 1934 herrschte Strandverbot für Juden. Kommunisten, deren Lebensläufe Walloch einblendet, kamen ins KZ. Während des Krieges wurde Sylt zur Festung ausgebaut. Der letzte Bunker wurde erst im letzten Jahr gesprengt. Nach Kriegsende war Sylt eine Oase für Schwarzhändler, Unterschlupf des Auschwitzkommandanten Rudolf Höss, britischer Luftwaffenschießplatz. 1946 hatte die Insel rund dreißigtausend Kurgäste, ihnen standen 13.000 hungernde Flüchtlinge gegenüber.

Sylts Geschichte wird sinnlich faßbar, wenn der Autor die Leidensgeschichte des Keitumer Ludwig Borstelmann erzählt. Der Bauer muß wegen eines Deichbaus Acker abgeben, doch der Ortsbauernführer rundet dabei sein Land ab. Borstelmann prozessiert – und landet im KZ, wo er 1942 umkommt.

Oder die Geschichte des Willy Bannick, der nach dem Krieg ein Helgoländer Bördeboot vom Hafengrund hebt und Schollen fischt. „Hin und wieder war mein Netz so voll, daß ich es nicht an Bord hieven konnte. Aufpassen mußte ich immer, daß keine Seemine mit im Netz war.“ Oder die Erinnerungen von Max Skands und Hans Paulsen, die bis 1970 die Lok der Inselbahn („Blumen pflücken verboten!“) kutschierten. Oder die Story von Jürgen Gosch, der vom Krabbenpuler zum Sylter Fischgiganten aufstieg.

Nicht zu vergessen die Künstler, die in Sylt wohnten: Lovis Korinth, Käthe Dorsch, Valeska Gert, Emil Nolde, Felix Müller, Ernst von Salomon. In den Sechzigern dann die Literaturgespräche des Ferienhausbesitzers Peter Suhrkamp mit seinen Gästen. Max Frisch, Walter Jens oder Bogislav Barlog. Und die 68er Revolutionäre wie der Westerländer Hans Werner Jürgens, die in „Witthüs-Teestuben“ mit Rudi Dutschke tagen, während die Wirtschafts- und Politprominenten Berthold Beitz und Axel Springer in ihren Kampener Reetdach- Villen dem Pärchen Sachs & Bardot zuprosteten.

Walloch hat die Sylter Historie mit Geschichten von Menschen aufgefüllt. So wird aus seinem SyltBuch ein Lesebuch, das aus der Vergangenheit die Gegenwart begreifen läßt: Wie immer wieder die Mächtigen die Insel an sich reißen, wohlhabende Ferienhausbesitzer sie zur Saison überfremden und die absahnenden Insulaner im Winter wieder allein dasitzen mit ihrem Geld. Und mit ihrem Streit: Über die Zersiedelung, die Bodenspekulation, den Strandmüll, die erhöhten Stickstoffwerte, den Diskolärm, den ausgedienten Militärflughafen, die Wohnungsnot der Einheimischen, die Umweltschützer, die Berufspendler. Probleme verbinden? Die einige Gemeinde ist nicht in Sicht. Wie auch? – Wo die Kleinen an den Großen saugen.

Doch ein paar sind immer wieder unter ihnen, die sich auf Bewährtes besinnen und das Meer melken: Der Muschelfischer Fritz Rönnebeck etwa oder Clemens Dittmeyer, der mit seiner Austernzucht ein erträgliches Wintergeschäft betreibt. (Von Bio-Austern ist nicht die Rede.)

Sylt ist ein Atlas der Gegensätze: Watten und Marsch im Osten. Brandung und Sand im Westen. Bröckelndes Land im Süden, reißende Priele im Norden. Und die Gästegeographie: Eine Insel der Reichen? Der Naturfreunde? Der FKK-Fans? Der Künstler? Der Ehemaligen? Der Clubs? Der Segler? Der Camper? Der Teestuben-Twens? Der Gourmets? Der schillernd schönen Schickeria? Kein Stereotyp will für diese ganze Insel passen. Jeder Clan hat seine Kneipe, sein Café, seine Bar. Nur der Fisch vereint: Bei Gosch an der Fischbude treffen sich alle.

Aus vielen Schichten kommen sie nach Sylt. Trotzdem ist Sylt kein melting pot – zwischen Kampen und Campen. Zwischen FKK und Textil trennt es sich fein säuberlich.

Der Filmdokumentarist und Fotojournalist Karl H. Walloch, ein Wahlsylter, hat in einheimischen Zigarrenkisten und Konfektschachteln penibel in Büttenrandfotos geangelt. Ein guter Fang: Der Text ist mit diesen und vielen eigenen, zum Teil farbigen Fotos verpackt. Der Autor ist kein Profischreiber, aber bei seiner Recherche hat er sich keinen Sand in die Augen streuen lassen. Uwe Wandrey

Karl-H. Walloch: „Das Sylt-Lesebuch. Geschichte und Geschichten von Einheimischen und Fremden“. Rasch und Röhring Verlag, 36 DM.