Lichte Erlebnisräume mit Gleisanschluß

■ Ein Bahnhofsführer stellt 68 Stationen in Deutschland vor. Ein Buch für Bahnfans

Aus den schmuddeligen Hallen der deutschen Bahnhöfe sollen in naher Zukunft lichte „Erlebnisräume mit Gleisanschluß“ werden. Heinz Dürr, der Chef der Deutschen Bahn AG, träumt von „mo- dernen Verkehrsstationen mit umfassendem Service“, die sich zu „urbanen Kommunikationsstätten“ weiterentwickeln. Die Bahnhöfe sollen ihre Sekundärfunktion als „Abstellflächen für soziale Randgruppen“ (Dürr) bald verlieren. Aber noch stehen die Bahnhofsviertel der Großstädte als Synonym für Rotlichtbezirke, Drogenumschlagplätze und Kriminalität.

Wie die neuen Bahnhöfe aussehen werden, zeigen die Pilotprojekte in Berlin-Zoo, Leipzig und Köln. Rigide Hausordnungen und immerwährende Präsenz von Ordnungskräften und Polizei verdrängen Obdachlose, Junkies, Stricher und Gelegenheitsprostituierte in die Bahnhofsrandbereiche und suggerieren den Bahnreisenden ein Gefühl von Sicherheit, das dennoch nicht der Realität entspricht. Taubendreck und Männerpisse verschwinden unter frischer Farbe und hinter Marmorverkleidungen. Eine schicke Schlemmerthekenkultur mit Cappuccino und Chinapfanne ersetzt das frühere Bouletten- und Dosenbierambiente der Imbißstände. Die langen Schlangen vor den alten Fahrkartenschaltern ballen sich nun als chaotische Knäuel in den neugeschaffenen Reisezentren, während andere Serviceeinrichtungen wie Gepäckschalter und Warteräume endgültig der Vergangenheit angehören.

Bevor nun alle Bahnhöfe umgemodelt werden und ein neues Einheitsgesicht verpaßt bekommen, stellt der Stadler Verlag seinen Bahnhofsguide Deutschland 1995/96 vor. Die 360 Seiten starke Broschüre zu 14,80 Mark erinnert in Format und Aufmachung an die kleinen Kursbücher für Städteverbindungen, die von der Bahn AG herausgegeben werden. Das offiziöse Äußere, das durch das DB- Logo auf dem Einband noch unterstrichen wird, ist denn auch kein Zufall. Der Bahnhofsführer ist eine Auftragsarbeit für die „Marketing-Gesellschaft Bahnhof“, zu der sich die Pächter der Bahnhofsbetriebe zusammengeschlossen haben.

Das Buch ist allerdings mehr als eine Werbebroschüre. Der Autor, der Journalist Helmut Frei, der sich auf Eisenbahnthemen spezialisiert hat, schreibt zum Glück keine Jubelgeschichte der deutschen Bahnhöfe. Kenntnisreich und detailliert porträtiert Frei in alphabetischer Reihenfolge die wichtigsten Bahnhöfe. In 68 Stationen führt er uns von Aachen-Hbf über Frankfurt-Flughafen und Potsdam-Stadt bis nach Zwickau- Hbf kreuz und quer durch die Lande und durch 150 Jahre deutsche Eisenbahn- und Bahnhofsgeschichte.

Helmut Frei ist seine Liebe zur Eisenbahn anzumerken. So ist ein Buch für Bahnfreaks und Pufferküsser entstanden. In vielen Einzelheiten schildert der Autor die Entwicklung eines jeden Bahnhofes von den Anfängen bis zur Gegenwart und lockert das spröde Thema mit netten Anekdoten und kleinen Histörchen auf. Helmut Frei berichtet von den Glanzzeiten, als die Eisenbahn zum Antrieb der industriellen Entwicklung wurde und die Bahnhöfe der großen Städte vielbewunderte Kathedralen des Fortschritts waren. Er spart aber auch die düsteren Kapitel der Eisenbahngeschichte nicht aus, als sich die Nazis der Bahn bemächtigten und sie in ihr Kriegs- und Vernichtungssystem integrierten.

In dieser Geschichte der Bahnhöfe liegt denn auch die Stärke des Bandes. Den anderen – selbstgestellten – Anspruch kann der Bahnhofsguide nur bedingt erfüllen.

Die „hilfreichen Angaben zum Service- und Dienstleistungsangebot“, die der Klappentext verspricht, erweisen sich als dürftig. Für die mickrigen Übersichtspläne ist eine Lupe nötig, die der Verlag allerdings nicht mitliefert. Die in der „Info-Box“ angegebenen Telefonnummern sind mit Vorsicht zu genießen. Statt mit dem Berliner „Fremdenverkehrsverein“ zu sprechen, tönt das Zirpen eines Faxanschlusses aus der Leitung. Und welchen Informationswert die 47 mal 32 Millimeter kleinen Fotos haben sollen, bleibt in der Unschärfe der Bilder verborgen. Reinhard Kuntzke