Langes Verglühen

Gelehrte Spaziergänge mit plötzlichen Schrecksekunden – W.G. Sebalds englische Wallfahrt  ■ Von Stephan Wackwitz

Daß der Eichborn-Verlag W.G. Sebalds neue Arbeit als „ein Buch ohne Vorbild“ inseriert, ist nicht berechtigt. Die zehn Stücke unter dem humoralpathologisch inspirierten Titel „Die Ringe des Saturn“ nämlich verkörpern bis ins Detail eine Tradition feuilletonistischer Reiseschriftstellerei, die in den fünfziger Jahren vielgelesene Bücher von Peter Bamm, Erhart Kästner und Elisabeth Langgässer hervorgebracht hat. Diese Tradition ist vergessen und nur noch in den Grabbelkisten der Antiquariate in Form verstaubter Bändchen erhältlich.

Sebalds „Englische Wallfahrt“ – so der Untertitel des Buches – läßt sich beschreiben als ein trotz der ausländischen Szenerie düster- deutsches, auch bewußt provinzielles Gegenstück zu den weltoffenen, ihrer Tradition sicheren Reiseessays von Bruce Chatwin, Paul Theroux, V.S. Naipaul oder Ryszard Kapuscinski. Sebald scheint zudem beseelt von einem geradezu rücksichtslosen Willen, die in Deutschland marginalisierte Gattung literarisch zu nobilitieren, was seiner – allerdings, wie immer, perfekt gearbeiteten – Prosa streckenweise das Gewicht eines nicht aufgegangenen Hefezopfs verleiht.

In zehn gelehrt-sentimentalischen Wanderungen, ausgehend von Norwich, der Wirkungsstätte nicht nur des Autors, sondern auch seines berühmten Vorgängers Sir Thomas Browne im 17.Jahrhundert, erkundet Sebald die Landschaft Suffolks und die versunkenen Reste der industriellen und imperialen Vergangenheit seiner Wahlheimat, die, den halb im Sand versunkenen Überbleibseln einer zerschmetterten Kolossalstatue gleich, aus dem erwanderten Boden ragen: „Look at my works, ye mighty, and despair!“

Sebalds literarische Methode ist das klassische Verfahren des bildungsbürgerlichen Reisefeuilletons. Im Gehen fallen ihm die kulturgeschichtlichen Bewandtnisse der Gegend ein. Er verfolgt sie in Exkursen, die ihrerseits durch motivische Arbeit miteinander verwoben sind. Die Reise durch Suffolk wird so zur Führung durch einen Erinnerungspalast, dessen Topoi die Geschichte der Seidenweberei sind, die Industrialisierung Suffolks, die Medizin des 17.Jahrhunderts, berühmte Herrensitze der Gegend, die Verarmung des irischen Landadels seit den zwanziger Jahren, Jorge Luis Borges' Geschichte „Tlön, Uqbar, Orbis Tertius“, die Heringsfischerei in der Nordsee, Joseph Conrad und „The heart of darkness“, das belgische Kolonialreich in Afrika, Agonie und Ende der chinesischen Quing- Dynastie.

Auch das Generalthema dieser Leitmotivreihung (wäre sie auch nur ein bißchen heiterer, könnte man sie eine „Plauderei“ nennen) ist durch die klassischen Muster des Genres vorgegeben. Es ist der Untergang des Abendlandes. Oder vielleicht besser: das Abendland als Untergang. Denn Sebald unterscheidet sich vom kulturpessimistischen Feuilleton der fünfziger Jahre durch eine – allerdings entscheidende – Nuance: Jenes beklagte, daß die Welt sich ändert, Sebald dagegen hält es – von Benjamins „Geschichtsphilosophischen Thesen“ inspiriert – für die Katastrophe, daß alles immer so weitergegangen ist: „Die Verkohlung der höheren Pflanzenarten, die unaufhörliche Verbrennung aller brennbaren Substanz ist der Antrieb für unsere Verbreitung über die Erde. Vom ersten Windlicht bis zu den Reverberen des achtzehnten Jahrhunderts und vom Schein der Reverberen bis zum fahlen Glanz der Bogenlampen über den belgischen Autobahnen ist alles Verbrennung, und Verbrennung ist das innerste Prinzip eines jeden von uns hergestellten Gegenstandes. Die Anfertigung eines Angelhakens, die Manufaktur einer Porzellantasse und die Produktion eines Fernsehprogramms beruhen letztendlich auf dem gleichen Vorgang der Verbrennung. Die von uns ersonnenen Maschinen haben wie unsere Körper und wir unsere Sehnsucht ein langsam zerglühendes Herz. Die ganze Menschheitszivilisation war von Anfang nichts als ein von Stunde zu Stunde intensiver werdendes Glosen, von dem niemand weiß, bis auf welchen Grad es zunehmen und wann es allmählich ersterben wird. In Italien, Frankreich und Spanien, in Ungarn, Polen und Litauen, in Kanada und Kalifornien brennen die Wälder, ganz zu schweigen von den immensen, nie zum Erlöschen kommenden Feuern in den Tropen.“

In solchen wunderschönen Prosabögen gehen Sebald all die Unterscheidungen verloren, durch welche Sachtexte jenseits stilistisch-handwerklicher Perfektion schön, nämlich wahr werden. Denn es ist nicht wahr, daß sich in der Verfertigung einer Porzellantasse und im Herstellen eines Angelhakens derselbe Zerstörungsfuror zeigt, der zum Abfackeln der brasilianischen Urwälder führt. Die ökonomischen, technischen und politischen Ursachen beider Vorgänge sind so unvergleichbar wie ihre moralischen Konsequenzen. Und daß unsere Maschinen angeblich zerglühen wie unsere Sehnsucht – über derlei würde der Rezensent gern den Mantel des Schweigens breiten.

W.G. Sebald ist der Autor eines der schönsten Bücher, die ich je gelesen habe: „Die Ausgewanderten“ von 1992. Was die abgründige Traurigkeit dieses Meisterwerks so nachvollziehbar und wahr macht, was sie von der oft so beliebig scheinenden Melancholie der nun vorgelegten Spaziergänge unterscheidet, ist der Umstand, daß Sebald in „Die Ausgewanderten“ gescheiterte Lebensläufe individueller Menschen schildert und in den „Ringen des Saturn“ das angebliche Scheitern des Weltlaufs. Der Weltlauf jedoch, im Unterschied zum Verlauf eines Lebens, kann nicht scheitern, und wenn er scheiterte, so könnten wir dies Scheitern nicht beobachten. Die Kunst, „in der Art von Propheten von gewissen Positionen aus an Wesentliches zu erinnern und den Verfall zu beklagen“ (Niklas Luhmann) ist seit den fünfziger Jahren nicht zufällig in Verfall geraten. Und der Distinktionsgewinn, den Ernst Jünger, Gerhard Nebel, Martin Heidegger und ihre Epigonen damals mit sweeping generalisations von der Art, wie sie Sebalds neues Buch anfüllen, sich verschaffen konnten, nicht mehr erzielbar.

W.G. Sebald: „Die Ringe des Saturn“. Eichborn, 300 S., 48 DM