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Bis hierher und nicht weiter

Wie ein Neugieriger in Georgien Hilfe bei der Bergtour in Richtung Tschetschenien suchte  ■ Aus dem Kaukasus Klaus-Helge Donath

Noch eine Abordnung erscheint auf dem Hof der Familie Barataschwili. Es ist die dritte mittlerweile. Die Gastgeberin bringt Stühle, reicht Früchte und Tee und zieht sich zurück. Die Barataschwilis wußten nichts von dem Neugierigen, der aus heiterem Himmel anrückte. Ihr Sohn in Moskau hatte die Adresse gegeben.

Dusi ist eins von fünf Dörfern in der Nähe von Schatali im hohen Norden Georgiens, wo fast ausnahmslos Tschetschenen leben. Von hier aus steigen die Gipfel des Ostkaukasus bis auf 4.500 Meter hinauf. Die drei Männer, Abu, Muser und Zaid, lassen sich das Vorhaben des Neugierigen erklären. Mißtrauisch fragen sie: Warum von hier über die Berge?

Die Antwort ist einfach. Seit Monaten leisten die Tschetschenen der russischen Übermacht Widerstand. Woher kommt ihr Nachschub? Über Dagestan, die kaukasische Nachbarrepublik? Oder aus diesem gottverlassenen Winkel?

Vielleicht sind es alles nur Märchen. Im Sommer lassen Hirten oben ihr Vieh weiden, sonst wagt sich kaum einer in die verästelten Täler, in denen Bären und allerhand wildes Getier zu Hause seien, erzählt Muser. Zaid macht es noch spannender: „Entlaufene Kriminelle“ lebten in den undurchdringlichen Wäldern.

Seit Ende des 18. Jahrhunderts siedeln Tschetschenen auf der Südseite des Kaukasus. „Damals flohen sie vor den heranrückenden Truppen der russischen Zaren“, murmelt der pensionierte Dorfschullehrer, „die endlich den Kaukasus bezwingen wollten.“ Im letzten Winter flohen wieder Tschetschenen auf dem gleichen Pfad über die Berge. Wieder hatten die Russen dem kleinen Volk den Krieg eröffnet. Jede Familie hat nahe oder fernere Verwandte auf der anderen Seite. Damals platzte das Dorf fast aus den Nähten, aber nun haben sich die Flüchtlinge auf den Heimweg gemacht, in der Hoffnung auf Frieden.

Mit seinen Häusern und hufeisernen Gehöften könnte Dusi auch in Tschetschenien liegen. Selbst die hellgrünen oder türkisfarbenen Eisentüren mit dem Emblem der Olympischen Spiele in Moskau 1980 gleichen denen im Norden. Am Rande entsteht eine Moschee aus Ziegelsteinen.

Es ist Montag vormittag, und das Dorf brütet unter der unerbittlichen Sonne. Abu nennen sie den „Chef“. Er macht einen ruhigen und besonnenen Eindruck. Nach dem Abschluß an der Offiziersschule in Leningrad ging er nach Moskau, wo er an einer Börse arbeitete. Der Krieg verschlug ihn zurück in die Heimat. „Aus der Ferne zusehen, wie sie dein Volk hinrichten?“ Mehr sagt er nicht, Anders als seine Begleiter, die in blumigen Wortkaskaden wetteifern. Abu und seine Leute organisieren den Nachschub über die Grenze. Zwei, drei, vier Tagesmärsche braucht man bis zum Stab der Freischärler auf der tschetschenischen Seite.

Muser verspricht, einen Bergführer zu finden. Das ganze Dorf mit seinen 3.000 Seelen scheint inzwischen Bescheid zu wissen. „Lieber nicht darüber reden“, gibt die Tochter des Hauses zu verstehen. In Dusi stehen nicht alle hinter dem kaukasischen „Duce“ Dschochar Dudajew, der sich am Ende des Pfades jenseits des Gebirges verschanzt hält.

Die Dörfler organisieren ihren Schutz allein, kein georgischer Polizist wagt sich noch hierher, seit einer von ihnen ermordet wurde. „Wir schützen uns vor unseren eigenen Leuten“, meint ein Alter, „alles wird gestohlen.“ Selbst der geheimnisvolle Tabak im Garten der Großmutter, der Wunden heilen und Diäten ersetzen soll, aber nur im verborgenen geschnupft wird, „weil es anrüchig ist“, wie die Tochter des Hauses ein wenig verschämt bekennt. Mit Einbruch der Dunkelheit bewacht ein Grüppchen junger Männer die Ortseinfahrt. Ein Seil mit einem bunten Fetzen markiert den Kontrollpunkt.

Als die drei den Hof verlassen, nimmt die Hausherrin Muser beiseite. Nach tschetschenischem Brauch ist der Gastgeber verpflichtet, die Wünsche der Gäste zu erfüllen. Doch die Männer der Familie mit Ausnahme des invaliden Familienoberhaupts sind nicht da. Auch der Nachbar, der fast zur Familie gehört, ist fort. So redet die Hausherrin auf Muser ein.

Spät abends klopft es am Tor: Muser. Seine Nachricht: Am nächsten Tag soll es losgehen. Wieder beginnt eine Befragung durch das Triumvirat. Das Mißtrauen sitzt tief. Gegen Mittag wird Vater Barataschwili unruhig. Er zeigt sein Geburtshaus, in dem seine Schwester wohnt. Hinter der Holzbalustrade an der Außenwand im ersten Stock hängt das Porträt Josef Stalins. Es blieb hängen, gleichsam als Loyalitätsbeweis zu Georgien.

Barataschwili heißt eigentlich anders. Die Familie hat ihren Namen georgisiert, „schwili“ angehängt, um der Verfolgung durch Stalin zu entgehen. Und tatsächlich wurden die Tschetschenen Georgiens nie zwangsumgesiedelt.

Abends klopft Muser wieder. Er führt den Neugierigen zu einem Treffpunkt am Rande des Dorfes, ganz konspirativ. Dort wartet ein „erweiterter Rat“. Wieder Fragen über Fragen: Zu wem? Wie lange? Warum? Wie zurück? Schließlich erklärt sich Mohammed bereit. Er kennt die Berge wie seine Westentasche. Er verspricht vier Pferde und verlangt einen stolzen Preis. Im Gegensatz zu Muser hat er „kommerzielle Interessen“.

„Morgen also, abgemacht“, heißt es schließlich. Tags drauf, kurz vor Mitternacht, kreuzt Muser wieder auf. Im Dunkeln geht es durchs Dorf, um keinen Verdacht zu wecken. Doch vor jedem Haus sitzen Leute. Auch Frau Barataschwili ist dabei, sie braucht von Mohammed die Zusage, daß er gut auf die Gäste aufpaßt. Außerdem muß sie mit Musers Mutter sprechen. Denn der Vermittler steht mit seinem Leben ein, sollte Gästen beim Ausflug etwas passieren.

In der ausladenden Hofanlage tollen Kinder herum, Frauen eilen hin und her, und die gesamte Männerriege der letzten Tage ist versammelt. Man nötigt zum Genuß frischer warmer Milch. Es wird geredet und geredet. Wieder ein Verhör. Von Eile keine Spur. Die Reise scheint zu Ende, bevor sie begonnen hat. Mohammed will gleich die ganze Summe, entgegen der Vereinbarung. Vor dem Haus stehen nur zwei Pferde – auch das entspricht nicht der Abmachung. Die anderen beiden seien gestohlen worden. Zwei Pferde für vier Leute plus Proviant? Denn Said will mit, zurück in seinen Heimatort. Und ohne seinen Paß, der verbrannt sei, könne er nicht durch die reguläre Grenzkontrolle.

Saids Kalaschnikow drückt ins Knie, der Pferdeschweiß wird von der Hose aufgesogen, es gibt weder Sattel noch Decke, der Proviantsack auf dem Rücken schlägt im Takt des Trotts. Mühselig schleicht der Gaul den Berg hoch, er ist erschöpft, am Ende. So heißt es absitzen, zu Fuß weiter, solange der Mond den Weg weist.

Nach drei Stunden ist es zappenduster. Das Nachtlager wird aufgeschlagen. Mohammed zaubert einen Fünfliterbehälter hervor: Tschatscha, selbstgebrannten Traubenschnaps, dazu eingelegten Knoblauch und Hähnchen.

Stundenlang führt der Weg weiter durch dichten Laubwald. Ungläubig schauen Hirten zu. Hunde bewachen aggressiv ihren Stammplatz. Wohin das Auge reicht, gibt es unersättliches, reich bewässertes Grün.

In zweieinhalb Stunden sind 1.000 Meter Aufstieg zurückgelegt, es geht auf die 3.000 Meter zu, es wird beschwerlich. Eine Pause wäre ganz schön. „Brauchst 'nen Rollstuhl?“ brüllt Said, der den Rücken des Pferdes nicht einmal verlassen hat. Wer bezahlt, gibt den Ton an. Etwas braut sich zusammen. Mohammed tut beleidigt. Er will nicht mehr, und außerdem wird der Wind immer schärfer und kälter. Der Abstieg ins nächste Tal ist nicht mehr zu schaffen.

Aus heiterem Himmel taucht ein Wanderer aus der entgegengesetzten Richtung auf. Er spricht tschetschenisch. Dann teilt Said mit: „Russen und Georgier haben die Grenze ganz dichtgemacht. Kein Durchkommen.“ Aber wozu ein Führer, wenn er nicht durch die Linien schleusen kann? Der Wanderer kam wie auf Bestellung. Er will nämlich zurück zur nächsten Hirtenhütte, um vor Zeugen einen Brief aufzusetzen.

Beim Abstieg verirrt sich der Wanderer. Maschinengewehrsalven zerreißen kurz den Sternenhimmel. Die Nacht verbringt die Gruppe draußen.

Nach weiteren schwierigen Stunden landen schließlich alle wieder im Dorf, in Dusi. Die Dorfbewohner sind erleichtert – sie hatten die nächtliche Schießerei mitgekriegt. Nun beginnt das Tribunal. Wer trägt die Verantwortung für das Mißlingen der Expedition? Das Schiedsgericht befindet den fremden Neugierigen für schuldig, weil er am Vorhaben festhielt. Immerhin hatten sich die äußeren Bedingungen verschärft.

Doch von einem Spaziergang war ja nie die Rede gewesen. Mit zunehmendem Weingenuß schleicht sich bei Muser Verunsicherung ein. Der Neugierige will nämlich partout nicht die vereinbarte zweite Rate bezahlen. „Auftrag nicht erfüllt“, beharrt er. Aber der Vertrag zwischen Muser und Mohammed lautete „wohlbehalten wieder im Dorf abliefern“. Und genau das hat er getan.

Mohammed besteht auf der zweiten Rate. Wenn er sie nicht kriegt, will er sich an Muser oder die Gastfamilie des Neugierigen halten. Ist es die Sache wert, dem Gastgeber eine blutige Fehde über Generationen aufzuhalsen? Muser hat seinen Vater im vorigen Jahr durch Blutrache wegen einer noch offenen Rechnung verloren.

Die Stimmung bewegt sich um den Gefrierpunkt. Auf dem Dach über dem Kopfende nagt eine Ratte wie vom Satan gebissen. Frauen huschen durch den Nebenraum, tuscheln. Sie bringen die Magazine der Kalaschnikows in Sicherheit, für alle Fälle.

In Moskau ist schon der älteste Sohn alarmiert. Bei ihm wiederum meldet sich schließlich der Repräsentant Dudajews in Georgien und verspricht, die Sache zu bereinigen, „auf seine Art“. Der Neugierige darf abziehen. Die Berge bleiben verschlossen.

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