■ Krise der SPD – Antwort auf Thomas Meyer (taz, 25.10.)
: Auf die Führung kommt's an

Wer Programme schreibt, muß an ihre Wirkung glauben. Thomas Meyer, Chefideologe der SPD, glaubt immer noch an die integrierende Kraft von Programmen und Projekten. Als ob sich dieselbe Partei, die heute um den Charakter einer Volkspartei bangen muß, in den letzten beiden Jarzehnten nicht fast schon eine Programmdebatte in Permanenz geleistet und ein Projekt nach dem anderen aus dem Hut gezaubert hätte.

Der Zeitgeist war freilich immer schon weiter als das jüngste Programm. Auf dem Papier zwar ließen sich gegensätzliche Ansprüche – der alten und der neuen sozialen Bewegungen etwa – noch versöhnen, nicht aber in der Wirklichkeit. Mögen Programmdebatten dem internen Zusammenhalt einer politisch und mental auseinanderdriftenden Partei dienen – für die Wählerintegration werden Personen immer wichtiger.

Auf die Führung kommt es also an – und da beginnen bekanntlich die Probleme der SPD. Rudolf Scharping ist kein Charismatiker, sein hölzerner Stil verfehlt Unterhaltungs-, aber auch Identifikationsbedürfnisse, ein paar Fehler kamen hinzu. Wie sollte seine Autorität aber auch unangefochten sein! Scharping ist eben nicht Brandt, er ist immer noch Amtsneuling und mit 47 jünger als seine Konkurrenten, die ihn aus Juso- Zeiten her kennen und deshalb entsprechend mit ihm umgehen zu dürfen meinen. Ein gut Teil seiner Schwierigkeiten rührt überdies paradoxerweise aus einem realen Machtzuwachs der SPD her: In wichtigen Bundesländern regieren selbstbewußte Genossen, die das Schalten und Walten jedes Vorsitzenden begrenzen oder auch mal durchkreuzen. So „lose“ ist die „organisierte Anarchie“ (Lösche/ Walter) der Partei doch, daß im Grunde keine Kampagne mehr zu führen ist – der Versuch, den D- Mark-Nationalismus populistisch auszuschlachten, ist im Sperrfeuer widerstreitender Meinungen sogleich gescheitert – und dies, obwohl die alte „Troika“ einig war.

Ein weiteres folgenschweres Problem ist die Fahnenflucht der Mitglieder, zumal die dramatische Abnahme des Anteils jüngerer. Fast alle wichtigen Positionen sind deshalb fest in der Hand einer einzigen, der mittleren Generation. Weil sie dieselben Prägungen erfahren hat – den Antikapitalismus in der APO, den Pazifismus in der Friedensbewegung –, fällt es ihr so schwer, sich den rasch gewandelten Wirklichkeiten – innerhalb und erst recht außerhalb dieses neuen Landes – zu stellen. Beharrungstendenzen müßten sich noch verstärken, wenn progressive Abweichler – wie der Brandt-Schüler Norbert Gansel – aus dem Führungskern hinausgedrängt würden – abgesehen davon, daß die Partei so noch langweiliger zu werden drohte. Denn nicht einmal die Jusos vermögen es ja, ihrem Anspruch gemäß „provokative Kraft“ zu sein. Mental vergreist, dümpeln ausgerechnet die Jüngsten am tiefsten im Nebel all der Klassenkampfmythen der späten sechziger Jahre.

Schließlich steckt die SPD – hier hat Thomas Meyer zweifellos recht – aufgrund der Buntscheckigkeit ihrer Zielgruppen auch noch strategisch in der Zwickmühle – tiefer als die CDU, erst recht als die Grünen. Präsentiert sie sich eher als „Schutzmacht der kleinen Leute“, wählen die Besserverdiener in den Wachstumsregionen – je nachdem – CDU oder Grün, gibt sie sich als Guru des ökonomisch-ökologischen Wandels, laufen die Modernisierungsverlierer in den Krisenregionen zu den Reps oder wählen gar nicht mehr. In diesem Dilemma wurzeln der Hang zu all den wunderbaren Formelkompromissen, das oft irritierende Erscheinungsbild der Partei, ihr flaches Profil. Also doch Ende des „sozialdemokratischen Jahrhunderts“?

Gemach. Noch ist die SPD – als einzige Partei – mit allen anderen koalitionsfähig und bliebe die meistbeschäftigte Regierungspartei, selbst wenn sie auf Berliner Niveau einfröre. So reizvoll Schwarz- Grün manchem Journalisten vorkommen mag, so gefährlich es für die SPD auch tatsächlich wäre, weil sie dann leicht – ehrenhaft, aber ohnmächtig – zur politischen Heilsarmee der Fußkranken und Ausgemusterten mutieren könnte – noch (!) ist die Öko-Partei dem linksalternativen Milieu zu verhaftet, als daß sie sich einen Partnertausch ungestraft leisten könnte.

Einiges spricht zudem dafür, daß die galoppierende Modernisierung in Deutschland der SPD neue Chancen eröffnet. Wenn soziale Spaltungen und multikulturelle Spannungen zunehmen, wenn Kriminalität ins Kraut schießt und Ängste vor Arbeitslosigkeit auch jene erfassen, die sich bisher sicher wähnten – Trends, die leider absehbar sind –, dann wird ein „sozialdemokratischer Kommunitarismus“, wie ihn der Etzioni-Freund Rudolf Scharping im Visier hat, womöglich verstärkt nachgefragt werden. Solidarität ist möglich – und wenn sie bloß aus der Furcht vor der sozialen Revolte gespeist wird.

Honoriert würde auch die Bereitschaft, „Zielkonflikte offenzulegen“ (Müntefering), statt sie zu verkleistern. Ohne den Mut zur Entscheidung freilich – wenigstens manchmal – wird sich das Profil der Partei kaum schärfen lassen.

In ihrer gegenwärtigen Krise indes wird es für die SPD zur Überlebensfrage, ob es ihrem neuen Geschäftsführer gelingt, Organisation und Apparat zu stabilisieren – aber wer kennt schon einen besseren als diesen Fußballer, der verkörpert, worauf es ankommt: „Bodenhaftung“ und „Modernität“. Zukunftsträchtig wäre auch wirkliche Teamarbeit, sie war es schon im Herbst 1994. Nur war die alte Troika bloß als letztes Triebwerk einer erlahmenden Wahlkampfrakete gedacht, nicht aber als Modell kollektiver Führung.

Dabei führt wohl kein Weg an Gerhard Schröder vorbei. Sei es die Virtuosität im Umgang mit den Medien, sei es der hemdsärmelige Soft-Machismo – jedenfalls schafft es der Niedersachse besser als andere, besser erst recht als alle Programme, biedere Facharbeiter, konservative Bildungsbürger und fröhliche Hedonisten geschlechterübergreifend zu faszinieren. Schröder gilt zudem – ob zu Recht oder zu Unrecht – als kompetenter Wirtschaftspolitiker und deckt damit eine seit Helmut Schmidts Tagen weit offene Flanke der SPD ab. Auch Oskar Lafontaine ist einer, der noch (oder besser: wieder) milieu- und werteübergreifende Strahlkraft zu entfalten vermag.

Wen gibt's in der CDU noch neben Kohl, wen bei den Grünen neben Fischer? Viele Talente und unterschiedliche Temperamente sollten kein Nachteil sein. Wenn er Ansehen und Autorität wirklich stärken und zugleich das Risiko fortgesetzten Führungsk(r)ampfs reduzieren wollte, müßte Rudolf Scharping allerdings – am besten vor seiner Wiederwahl in Mannheim – kundtun, mit wem in welcher Funktion er die nächste lange Linie zu laufen gedenkt. Michael Scholing