Im Niemandsland der Namenlosen

Kippengrab und improvisierte Häuslichkeit: Anthony Hernandez' fotografische Serie „Landscapes for the Homeless“, aufgenommen entlang der Stadtautobahnen von L. A., ist im Sprengel Museum Hannover zu sehen  ■ Von Michael Nungesser

Farbfotografien aus dem Unterholz: chaotisch verknäueltes Astwerk und knorriges Gebüsch, lichtdurchflirrtes Blättergewirr und steiniger Sandboden. Die exakten Aufnahmen aus der Nahsicht, mit ihrem saftigen Grün, herben Rotbraun und warmen, goldschimmernden Sonnenton wirken auf den ersten Blick fast idyllisch – wären da nicht überall Störfaktoren. Zivilisationseinbrüche in Form von Abfall aller Art, aber auch Teile von Betonarchitektur. Sie lassen erkennen, daß die so unscheinbaren alltäglichen Orte in der Nähe von wirklichen Siedlungen liegen. Anthony Hernandez zeigt Trash-Szenarien, in denen Menschen hausen, Ausgestoßene, Obdachlose.

Der 1947 in Los Angeles geborene, heute in Challis, Idaho, lebende Fotograf hat diese teils großformatige Bilderserie 1988 bis 1991 aufgenommen und „Landscapes for the Homeless“ genannt. Sie zeigt die selbstgebauten Schutzhütten der shelter people entlang der Stadtautobahnen seiner Heimatstadt. Die Ausstellung im Sprengel Museum, in einem kleinen, vom übrigen Haus separierten Raum mit Empore, ist die erste dieses sozialdokumentaristischen Fotografen in Deutschland. Hernandez hat gerade den „DG Bank-Förderpreis Fotografie“ erhalten. Vorgeschlagen hatte ihn Spectrum-Preisträger und Fotograf Robert Adams, der überzeugt ist, daß sein jüngerer Kollege „an einem Porträt unserer Gesellschaft arbeitet, das in dieser Konsequenz keine Parallele in der zeitgenössischen amerikanischen Kunst hat“.

Die ganze Trostlosigkeit der Situation wird durch das Fehlen der Menschen noch unterstrichen. An die Stelle dieser Siedler im Abseits sind die Dinge getreten, die ihnen geblieben sind. Auch sie verbraucht, abgenutzt, schäbig.

Was wie Abfall aussieht, ist auch oft solcher, aber wer kann sagen, ob dieses und jenes schon ausgedient hat oder nicht doch neu oder anders genutzt wird. Vielfach fangen die Gegenstände so plastisch und ergreifend ins Bild gerückt zu erzählen an, und ihre Anordnung läßt vermuten, daß hier geschlafen wird, dort gekocht, da gegessen...

Einfache aufgefaltete Kartons dienen als Liegen, ein paar zwischen trockenes Laub und Schutt gelegene Matratzen als Betten. Manche ins Gestrüpp gehängte Jacken oder Decken täuschen schützende Mauern vor und sprechen doch jeder Hoffnung auf Intimität Hohn. In große Pappwände geschnittene Rechtecke stellen Fenster dar, und ein paar halbzerbrochene Holzkisten werden vermutlich als Sitzgelegenheit benutzt. Der staubige, geröllhaltige Boden verwandelt sich bisweilen in ein Kippengrab, anderswo ist er von aufgeweichten und zerrissenen Pornofotos übersät. Äpfel, Gürtel, Rasierzeug, leere Büchsen und Lebensmittelverpackungen aller Art, Schuhwerk, Plastikbesteck, ein verlorener Telefonhörer und ein schmuddeliger Koffer – alles liegt wüst verstreut umher. Und dennoch sind Zeichen von improvisierter Häuslichkeit zu spüren, Versuche, unter der gesichtslosen Betonbrutalität der Autobahnbrücken Unterschlupf zu finden und einen letzten Rest von Humanität und Würde zu bewahren, den die Gesellschaft verweigert. Was die Fotos nicht vermitteln können, sind Lärm und Gestank, Hitze, Kälte, Dunkelheit und Nässe. Aber in ihrer Konzentration aufs Visuelle vermitteln sie um so mehr eine Ahnung vom Los der modernen Höhlenbewohner, deren Zahl in den Metropolen ständig wächst. Ihre Lage kommt unaufdringlich, aber eindrücklich ins Bild, denn Hernandez liefert „ein Register der Bedingungen unter denen sie leben... Lebensbedingungen am Nullpunkt“ – kein flammender Aufschrei, sondern ein genauer Blick ins schmutzige Niemandsland der Namenlosen.

Sprengel Museum Hannover, Kurt-Schwitters-Platz, bis 19. November, Katalogbuch 25 DM