Bekifft und automatisch bullshitfrei

Frieder Schlaich und Irene von Alberti haben drei Kurzgeschichten von Paul Bowles verfilmt. Zu Besuch in Tanger beim Spiritus rector der Beatniks war  ■ Mariam Niroumand

In Tanger einem Kellner zu erzählen „Hören Sie, ich habe Paul Bowles besucht“ und darauf zu hoffen, daß der dann vor Staunen und Bewunderung in rhythmische Konvulsionen verfällt, ist ein sinnloses Unterfangen. Intellektuelle Westler, so sie nicht gerade kurze Hosen tragen, gehen immer zu Paul Bowles, wie sie in die Kasbah oder das El-Minzah- Hotel gehen. Bowles, amerikanischer Komponist (Schüler Aaron Coplands mit Broadway-Erfahrung, vertonte beispielsweise „Die Glasmenagerie“) und Schriftsteller („The Sheltering Sky“) lebt seit den vierziger Jahren in Tanger, und das ist so bekannt wie Truman Capotes Bemerkung, Tanger sei die Stadt der Straßenjungs. „Es vergeht kaum ein Nachmittag“, beschwerte sich Bowles vor einigen Jahren in seinen Memoiren, „ohne daß nicht irgend jemand zu Besuch kommt, den ich noch nie im Leben gesehen habe und den ich wahrscheinlich auch nie wiedersehen werde. Solchen Leuten all diese Zeit zu widmen läßt das Leben statisch erscheinen, als lägen noch unendlich viele Jahre vor einem.“

Vielleicht nicht. Zur marokkanischen Premiere von „Halbmond“, einem No-budget-Film von Frieder Schlaich und Irene von Alberti, mußte er aus seinen Wolldecken geschält und in ein Auto getragen werden. In den Ansprachen hielt man sich kurz, der anschließende Fototermin dauerte vielleicht fünf Minuten, knappes Händeschütteln, und flugs mußte der ermüdete 85jährige wieder zurück in die Wolldecken.

Seine Wohnung ist immer noch eine Beatnikhöhle, es ist fast schon lustig. Die Vorhänge sind zugezogen, es liegen Tapes herum, auf denen tatsächlich „John Cage“ steht, Briefe von Burroughs, Haschischpfeifchen und haufenweise Tabletten liegen auf den diversen Ausgaben von Bowles-Romanen – fast könnte einen der Verdacht beschleichen, hier habe ein gewiefter Heimatmuseumsdirektor die Hand im Spiel, hier würde schon für die Nachwelt Patina angesetzt.

Ein Gespräch ist naturgemäß mit Hindernissen verbunden. „Pleased to meet you.“ „Herr Bowles, sind Sie eigentlich einverstanden damit, immer als Spiritus rector der Beatniks gehandelt zu werden?“ „The what ???“ „Herr Bowles, was war denn die Gertrude Stein für eine? Mochten Sie deren Bücher?“ „Did I like her what ???“ „Herr Bowles, gibt es in Tanger eine Art von Kulturleben, an dem sie teilnehmen oder teilgenommen haben?“ „Tanger has no culture.“ Alles wird vorgetragen in einem leisen, vorsichtigen Ton, hinter dem die enorme Anstrengung steckt, nicht die Geduld und Höflichkeit zu verlieren; man fühlt sich hochnotpeinlich und höchst überflüssig; da ist es fast schon wieder gut, wenn die Tür aufgeht und ein äußerst schmalzig aussehender dicker Herr hereintritt, der sich als Bowles spanischer Fahrer entpuppt und der ihm nun haarklein unterbreitet, welche seiner Nichten welchen Senior Olvidares geheiratet hat und warum. Bowles antwortet in flüssigem Spanisch, wie ein sterbender König einem treuen Vasallen.

Gore Vidal hat Bowles als „a man completely devoid of bullshit“ bezeichnet. Damit war gemeint, was auch andere Kritiker ihm zugute gehalten haben, daß nämlich seine Reiseromane nie in die Erlösung aus dem Serail oder in sonst einen Exotismus geführt haben, sondern immer in Vergewaltigung, Folter, Mord oder Tod durch Krankheit seiner (amerikanischen) Protagonisten. In „A Distant Episode“ wird ein Ostküsten- Professor von nordafrikanischen Nomaden gefangen und in ihrem Wanderzirkus als exotisches Tier vorgeführt. Warum solcherlei orientalische Endzeitphantasien automatisch bullshitfrei sein sollen, will mir noch immer nicht so recht einleuchten. (Im Gegenteil: Langsam frage ich mich, was der amerikanische Literaturwissenschaftler Edward Said eigentlich gegen das Interesse für das Orientalische hat – was ist eigentlich so verkehrt daran, in Tanger Bauchtänzerinnen, Tee unter Palmwedeln, Pfefferminze und Pinienkerne in Riesenkörben auf staubigen Marktplätzen zu suchen? Statt sie immer nur als Hintergrundfolie für das eigene einsame Sterben zu benutzen, um das hier niemand gebeten hat?)

Auch der Antiquitätenhändler kennt Bowles. Umständlich versuche ich mich zu der Frage vorzutasten, ob Bowles' damalige, wohldokumentierte Vorliebe für die schönen marokkanischen Straßenjungens einen Muslim stört. „Oh, er war verheiratet, wissen Sie. Seine Frau, Jane, war ein bißchen plemplem.“ Wichtiger noch scheint aber zu sein, daß Bowles gerade die älteren Leute hier an die große Zeit erinnert, als Tanger noch eine Freihandelszone unter französischem, britischem, schwedischem, holländischem, belgischem, portugiesischem, italienischem und spanischem Protektorat war.

Die Berber einerseits und die Juden andererseits hatten zu jeweils unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche gute Positionen in diesem Machtwirrwarr – aber ein gutes Verhältnis zum Konsulat, zu irgendeinem Konsulat, war in den Zwanzigern bis in die vierziger Jahre hinein für ein gutes Leben unabdingbar. Für eine kurze Zeit, so scheint es, brachte der Freihafen dieses gute Leben für alle, für Schieber, Diplomaten, Schmuggler, Huren, Seeleute, Schwule, Händler – und Schriftsteller. Bis die Unabhängigkeit kam und der ganze geborgte und getürkte Reichtum aufflog. Die distinguierten älteren Herren in weißen Leinenhosen und getönten Brillen, die auch heute noch im Café de Paris am Place de France sitzen, erinnern die Leute wohl an diese Goldjahre. Homosexualität und Wohlstand sind in der Lokalmythologie immer noch irgendwie verbunden.

Frieder Schlaich und Irene von Alberti, die beiden Filmemacher aus Stuttgart, sind seit der Gymnasialzeit ein Paar. Wenn man sie auf Fotos mit Paul Bowles zusammen sieht, ist man natürlich zuerst geneigt, hier eine Familiengründung zu vermuten, zwei Autoren suchen sich einen Geistesvater und so weiter. In Wirklichkeit sind die beiden Schwaben, deren Ausbildung vor allem eine fotografische ist, aber durchaus nicht medusenhaft gebannt, sondern eher auf freundschaftlicher Distanz zu Bowles geblieben (der einem wiederum auch nicht viel anderes gestattet). Auf die drei Bowles-Geschichten, die sie zu „Halbmond“ verarbeitet haben, sind sie vor allem nach eigenen Reisen, zum Teil schon als Kinder von Diplomateneltern gestoßen. Reisen ist in allen drei Geschichten und der Aura des gesamten Films immer die Bewegung in Richtung auf eine Bedrohung hin; das Licht ist entweder gleißend hell oder klaustrophobisch verhangen; überall sind Schatten.

„Am Strand von Merkala“ ist im Grunde eine kleine Hommage an den Kif und dessen angebliche Überlegenheit über den Alkohol (für Bowles und seine inneren Abgrenzungsorgien also das Mittel der Wahl). Zwei Marokkaner lieben dasselbe Mädchen, liegen auf dem Bett und rauchen und kiffen und trinken, der Betrunkene wird grob, der Bekiffte melancholisch. Kampf der jungen Männer am Strand. Prostitution. Ende.

Zweite Kurzgeschichte: „Zwischenhalt in Corazon“. Der Impuls zu dieser Geschichte stammt aus der Zeit, als Bowles seine Flitterwochen mit der Schriftstellerin Jane Auer in Mittelamerika verbrachte. Schlaich und von Alberti haben in Brasilien gedreht, auf einem engen Flußdampfer in spürbarer Hitze und so detailgenau, daß das Schiff im richtigen Moment an einem vorstehenden Ast entlangschubbert. Zwischen dem Filmpaar ist alles aus, bevor es angefangen hat, und als die Besatzung des Schiffes am Morgen im komatösen Schlaf liegt, findet der Mann seine Frau in den Armen eines Fremden. Am nächsten Hafen trennen sie sich. „Allal“ schließlich ist in Südmarokko gedreht, bei Temperaturen von 48 Grad. Der Protagonist ist ein kleiner Junge, der in einem Dorf am Rand der Sahara als Paria lebt, bis schließlich ein Schlangenbändiger bei ihm übernachtet. Der Junge verwandelt sich selbst in eine dieser Schlangen und beißt und vergiftet, soviel er kann, bevor man ihn mit einem Stein erschlägt ...

Paul Bowles, der in dem Film als Erzähler fungiert, hat den beiden seinen Segen gegeben: „Halbmond“ sei eine außerordentlich gelungene Verfilmung, definitiv besser als das, was Bernardo Bertolucci aus „The Sheltering Sky“ („Der Himmel über der Wüste“) gemacht habe.

„Halbmond“. Regie: Frieder Schlaich, Irene von Alberti. Mit: Samir Guesmi, Khaled Ksouri, Said Zakir, Veronica Qullilligan, Sam Cox u. a. BRD 1995, 93 Min.