Veränderung aus Trauer

Nach der offiziellen Trauerwoche für Jitzhak Rabin rätseln Psychologen über die Wirkung des Mordanschlags auf Israels Bevölkerung  ■ Aus Tel Aviv Amos Wollin

Mit der größten Kundgebung in der Geschichte Israels ging gestern abend die offizielle Trauerwoche nach der Ermordung von Jitzhak Rabin zu Ende. Tausende Menschen waren im Lauf der Woche aus allen Teilen Israels zum kranzbedeckten Grab des Ministerpräsidenten auf dem Jerusalemer Herzl-Berg gepilgert, das mit unzähligen Gedenkkerzen umgeben war. Mindestens 1,5 Millionen Menschen sollen sich landesweit an den verschiedenen offiziellen Trauerfeiern beteiligt haben oder am Sarg des Toten vor dem Parlamentsgebäude vorbeidefiliert sein. Die Trauer unter breiten Volksschichten ist fraglos echt und für israelische Verhältnisse ungewöhnlich intensiv.

Der Platz in Tel Aviv, an dem Rabin ermordet wurde, ist zum Kultort geworden. Fotografen, Radio- und Fernsehberichterstatter haben sich dort etabliert, um Interviews zu machen oder die vielen Jugendlichen aufzunehmen, die sich – oft leise Friedenslieder singend – zusammenfinden. Kinder erklären Rabin zu ihrem „zweiten Vater“, junge Paare umarmen sich weinend, ältere Kriegskameraden tauschen Erinnerungen an ihre Militärzeit unter Rabin als Stabschef aus, und Pensionäre erzählen sentimental-nostalgische Geschichten aus den Jahren nach der Staatsgründung. Nicht selten wird dabei die Vergangenheit süßlich verklärt. Immer wieder hört man den Satz: „Wenn der Mörder wenigstens kein Jude gewesen wäre!“ Ein Palästinenser, der lange Zeit in israelischen Gefängnissen saß, meint dagegen: „Man muß Gott danken, daß es kein Araber war!“

Die Nationaltrauer, die plötzlich auf einer so breiten Basis zum Ausdruck kommt, ist nicht leicht zu erklären. Sie ist vielleicht vergleichbar mit dem enormen emotionalen Schock, den der Mord an dem US-Präsidenten John F. Kennedy vor drei Jahrzehnten bei der Bevölkerung der USA erzeugt hat. Dort stand jedoch die US-amerikanische Nation ziemlich geeint hinter einer Kultfigur, während in Israel ungefähr die Hälfte der Wählerschaft dem Ministerpräsidenten und seiner Politik sehr kritisch, wenn nicht ausgesprochen feindlich gegenüberstand. Wie in den letzten Tagen bekannt wurde, sprachen sogar einige Rabbis eine Art Todesurteil gegen ihn aus.

Inzwischen beschäftigen sich Psychologen mit dem Mord und seinen Folgen für die israelische Bevölkerung. Nach Ansicht von Professor Joram Bilu, Psychologe und Anthropologe an der Universität von Jerusalem, hat die Erschießung Rabins für viele Israelis die Bedeutung eines Vatermords. Intensivste Schuldgefühle seien die Folge. In der Situation nach dem Mord gebe es neue einigende Elemente verschiedener Art, die ein starkes Gemeinschaftsgefühl herstellen. Ob die gegenwärtig vorhandene emotionelle Kraft der Gemeinschaft nur vorübergehend oder von Dauer ist, läßt sich noch nicht sagen. Aber es könnte schon ein emotionelles Potential für Veränderungen im Verhalten der Israelis bedeuten.

Andere Psychologen meinen, viele Israelis könnten durch die traumatischen Ereignisse reifer geworden sein, weil sie das Böse jetzt eher in sich und unter sich selbst und nicht mehr nur in einer Bedrohung durch den äußeren Feind sehen. Die Kondolenzbesuche der vielen ausländischen Staatsmänner in Jerusalem hat den Israelis auch gezeigt, daß die alte und häufig verwendete Formel „Die ganze Welt ist gegen uns“ längst keinen Sinn mehr macht.

Andererseits sind viele Politiker skeptisch und meinen, daß die derzeit bedeckten politischen Differenzen sehr bald nach Beendung der Trauerzeit erneut scharf zum Ausdruck kommen werden. Die alten Probleme sind weiterhin vorhanden, und auch die näherrückenden Parlamentswahlen werden die inneren Kämpfe neu zum Ausbruch bringen.