Reform, Revolte, dann Revolution

In einem sind sich die Historiker, die sich sechs Jahre nach dem Mauerfall mit der Wende beschäftigen, einig – der 9. November 1989 war ein Meilenstein innerhalb einer Revolution. Bleibt nur die Frage offen: Was für einer Revolution?  ■ Von Armin Mitter

„Man stelle sich vor, ein Traum geht in Erfüllung, und keiner bemerkt es so richtig.“ So begann ein Artikel von Klaus Hartung in der taz vom 6. November 1989. Drei Tage bevor die Mauer tatsächlich fiel, reflektierte Hartung darüber, welchen Effekt der mögliche Mauerfall haben könnte.

„Wer aber jetzt nur das Scheitern des Realsozialismus sehen will, ist blind. Die Massen der DDR sprechen nicht nur eine neue Sprache, ein neues, noch nie gehörtes Deutsch, voller Witz, Phantasie und sanfter Radikalität; es entfalten sich nicht nur Züge einer Basisdemokratie, die nicht eine Spur von Westimport hat. Nein, es ist auch möglich, daß die Massen an einem höheren Grad gesellschaftlicher Entwicklung ansetzen können.“ Diese Meinung über die „Massen“ in der DDR schloß auch ein, daß der tatsächliche Mauerfall an sich eher nebensächlich wäre. Sie sei, so Hartung, durch die Grenzöffnung zwischen Bayern und der Tschechoslowakei „gefallen, gewissermaßen unter anderem“.

Als dann am 9. November die Mauer tatsächlich fiel, war dann aber alles ganz anders.

Auch fünf Jahre nach den epochalen Ereignissen des Herbstes 1989 ringen die Historiker noch um Formulierungen für die Geschichtsbücher künftiger Generationen. Inzwischen ist eine Flut von Veröffentlichungen erschienen, von denen hier drei – für die Argumentation repräsentative – vorgestellt werden.

„Neue Wirklichkeiten sind entstanden und haben in vertraute Räume Einzug gehalten. Der Blick mancher Zeitgenossen ist schärfer, genauer geworden, der anderer hat sich getrübt“, steht am Beginn der Studie des Leipziger Historikers Hartmut Zwahr, die den Titel „Ende einer Selbstzerstörung. Leipzig und die Revolution in der DDR“ trägt und eben in zweiter Auflage erschien.

Das als Titelbild verwandte Gemälde „Geh' aus deinem Kasten“ des bekannten Leipziger Malers Wolfgang Mattheuer zeigt, wie sehr eigene Befindlichkeiten die Schilderung der Ereignisse noch immer prägen. Zwahr schreibt dazu auf den ersten Seiten: „Einer, der nicht länger mit zwei Gesichtern leben kann, der zu sich selbst gekommen ist, verläßt das Gehäuse, in dem er wie eingeschlossen gelebt hat. Die Tür geht auf, und er, ein Noah unserer Tage, wirft seine Kleider ab, nackt entschlüpft er ins Freie.“

So mag sich Zwahr selbst gefühlt haben, als er mit Hunderttausenden von Leipzigern um den Ring marschiert ist. Als Professor für Geschichte an der dortigen Universität gehörte er an sich zum Establishment im ersten sozialistischen Staat auf deutschem Boden. Schon das läßt die inneren Kämpfe erahnen, die Zwahr durchlebt hat, ehe er sich dazu durchrang, auf die Straße zu gehen, um die eigene „Selbstzerstörung“ mit der „Selbstbefreiung“ zu beenden.

Zwahr schildert nicht nur die Entwicklung der Ereignisse am Beispiel Leipzig, sondern versucht den Weg der „Revolution“ nachzuzeichnen.

Sie begann mit der Demonstration von 20.000 Leipzigern am Montag, dem 2. Oktober 1989. Bereits eine Woche später gingen 80.000 auf die Straße. Zu diesem Zeitpunkt, meint Zwahr, sei die Revolution vielleicht schon unumkehrbar gewesen. Dazwischen lagen die aus der Sicht der SED-Führung völlig verunglückten Jubelfeiern zum 40. Jahrestag der Republik.

Durch das brutale Vorgehen gegen die Demonstrationen am 6. und 7. Oktober in Berlin und anderen ostdeutschen Städten wurden die Massenproteste noch aktiviert. In den folgenden Wochen nahm sowohl die Zahl der Demonstranten als auch die der Orte, an denen protestiert wurde, von Tag zu Tag zu: „Die Demonstrationen verliefen seitdem mit der Wucht der akuten Systemdestabilisierung und schließlich Systemveränderung.“

Mit großer Anschaulichkeit beschreibt Zwahr in seiner Studie, wie dieser Prozeß ablief. Am 9. November fiel dann die Mauer in Berlin, und die Revolution trat in eine zweite Phase ein. Nun ging es nicht mehr um Reformen, sondern um Systemüberwindung, was sich auch in den veränderten Losungen zeigte. Jetzt riefen die Leipziger nicht mehr „Wir sind das Volk“, sondern „Wir sind ein Volk“. „Die Grenzöffnung entzog der Vision des Aufbruchs in eine bessere DDR – einer Vision, die bis dahin in den Demonstrationen Zustimmung gefunden hatte – die Grundlage.“

Die „nationale“ Phase der Revolution begann. Über die ersten demokratischen Wahlen in der DDR am 18. März 1990 führte sie schließlich am 3. Oktober 1990 zur Wiederherstellung der Einheit. „So war die ostdeutsche Revolution in ihren Inhalten, aber auch typologisch, als Revolution, demokratisch und nationalstaatlich. Die Produktivkraft Mensch hörte auf, Instrument von Selbstzerstörung zu sein, und wurde zu einer Kraft der Selbstbefreiung: Das war ein durch und durch demokratischer Vorgang.“

Die Stärke von Zwahrs Darstellung liegt zweifellos in der Beschreibung der Auseinandersetzungen zwischen Herrschenden und Beherrschten im Herbst 1989. Die Vorgeschichte des Herbstes 1989 bleibt dagegen deutlich unterbelichtet. Denn es reicht nicht aus, darauf zu verweisen, daß sich die „Mehrheit der Bevölkerung dem autoritären Zugriff (lange) gebeugt“ und „die politbürokratische Lenkung hingenommen“ hat.

Schon die von Jahr zu Jahr steigenden, im Staatshaushalt bereitgestellten Mittel für den Macht- und Disziplinierungsapparat zeigen, daß es für die SED-Führung von Jahr zu Jahr schwieriger wurde, die Mehrheit der Bevölkerung zu „beugen“. Erst das macht verständlich, weshalb das Herrschaftssystem, als es ins Wanken geriet, so schnell zusammenbrach.

Andere Schwerpunkte als Zwahr setzt der amerikanische Historiker Konrad H. Jarausch in seiner in diesem Jahr erschienenen Untersuchung mit dem Titel „Die unverhoffte Einheit 1989–1990“. Bereits zu Beginn betont er die möglichen Vorzüge seiner Perspektive als Nichtakteur: „Vielleicht kann transatlantische Distanz helfen, diese dramatischen Ereignisse zu entwirren. Im Gegensatz zur direkten Betroffenheit erlaubt der physische Abstand größere Gelassenheit und Ausgewogenheit des Urteils.“

Jarausch behandelt sowohl die innen- als auch die außenpolitische Entwicklung ausführlicher als Zwahr. Dies betrifft die im August 1989 einsetzende Massenflucht und auch die politische Entwicklung seit Oktober, insbesonders die „Wende in der Wende“, den Mauerfall also. Fast die Hälfte der Untersuchung befaßt sich mit der Zeit der Einführung der Westmark in der DDR, der sogenannten Währungsunion am 1.Juli 1990, bis zur Vereinigung am 3.Oktober des gleichen Jahres.

Obwohl auch Jarausch letztlich zu dem Ergebnis gelangt, daß es sich bei den Ereignissen um eine „Bürgerrevolution“ gehandelt habe, doch engt er deren aktive Phase deutlich ein: „Mehr als nur eine Gefühlssache ist das Revolutionsproblem eine Frage der Definition. Aus bitterer Enttäuschung ihrer Wünsche haben sich viele ostdeutsche Intellektuelle von dem Begriff [Revolution, A.M.] distanziert [...] Wenn Revolution einen ,erzwungenen Transfer der Macht im Staate‘ bedeutet, dann muß die ostdeutsche Erhebung als revolutionär eingestuft werden.“

Zwar spricht der Historiker in dem Kapitel, das sich mit dem Einigungsprozeß beschäftigt, auch von einer „sozialen Revolution“, dies betrifft jedoch in erster Linie die Anpassung Ostdeutschlands an die Modernisierung der alten Bundesrepublik.

Insgesamt sieht Jarausch in einer immer stärkeren Einflußnahme des Westens die eigentlichen Triebkräfte der Entwicklung, die schließlich zum „Beitritt“ der DDR zur Bundesrepublik führt. Trotz der „transatlantischen Distanz“ des Verfassers drängt sich auch bei der Lektüre häufig der Eindruck auf, daß „Befindlichkeiten“ entscheidenden Einfluß auf die Beurteilung der Geschehnisse haben.

Eine grundsätzlich andere Perspektive als Zwahr und Jarausch wählt Michael Richter vom Instiut für Totalitarismusforschung in seiner Studie „Die Revolution in Deutschland 1989/90“. Er konzentriert sich darauf, den Nachweis zu führen, daß es sich um eine Revolution gehandelt habe. Dazu analysiert er die bis Anfang 1995 erschienene Literatur. Nicht zu Unrecht verweist er darauf, „daß die revolutionstheoretische Debatte durch die Entwicklung am Ende des ,real existierenden Sozialismus‘ in die Krise geraten ist“. Dies führt er vor allem auf das praktische Scheitern der orthodox-marxistischen Revolutionstheorie zurück.

Richter lehnt im Gegensatz zu Zwahr und Jarausch den Begriff „Wende“ als zu unscharf ab. Nach der Erörterung verschiedener nichtmarxistischer Revolutionsmodelle und deren Brauchbarkeit, hebt Richter besonders das revolutionäre Element in der zweiten Phase der Revolution hervor, und zwar im Gegensatz zu Jarausch zu dem Zeitpunkt, als die staatliche Einigung absehbar geworden war: „Die revolutionäre Umwandlung von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft bgann sich nun in staatlichen Bahnen und im Rahmen des Prozesses der Vereinigung Deutschlands zu vollziehen. Aus Bonner Beamten und Politikern wurden Akteure des revolutionären Umbruchs, die Treuhandanstalt und das neue deutsch- deutsche Vertragswerk zu wichtigen Institutionen einer nicht nur ,nachholenden‘, sondern sich im Sinne des Anschließens an die westliche Gesellschaft wiederholenden bürgerlichen Revolution. Viele revolutionär erscheinende Bürgerrechtler entpuppten sich als revoltierende Reformer, die Politiker der Bundesrepublik und ihre kaum noch eigenmächtigen DDR- Vertreter als die von der DDR-Bevölkerung in Dienst genommenen Gestalter einer typisch deutschen Revolution per Gesetz und Ordnung.“

Durch eine solche Interpretation drängt sich die Frage auf, ob ein nicht unbeträchtlicher Teil der Ostberliner Bevölkerung bei den jüngsten Wahlen zum Abgeordnetenhaus nun ebenfalls typisch deutsch „per Gesetz und Ordnung“ eine erneute „Revolution“ durch die Stimme für die PDS herbeizuführen hoffte und vielleicht noch hofft. In puncto Revolution scheinen also noch einige Überraschungen möglich, die vielleicht nicht nur auf die historische Darstellung der Ereignisse 1989/90 in Deutschland beschränkt bleiben.

Vielleicht wird in Deutschland bald tatsächlich ein „nie gehörtes Deutsch“ gesprochen, wie es Hartung bereits im Herbst 1989 im Osten festzustellen glaubte. Nötig wäre es ja.

Hartmut Zwahr: „Ende einer Selbstzerstörung. Leipzig und die Revolution in der DDR“. Vandenhoek & Ruprecht, Göttingen 1993 (2. Aufl. 1995), 208 S., 39.80DM

Konrad H. Jarausch: „Die unverhoffte Einheit 1989–1990“. Suhrkamp, Frankfurt/Main 1995, 416S., 27,80 DM

Michael Richter: „Die Revolution in Deutschland 1989/90. Anmerkungen zum Charakter der ,Wende‘“. Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, Dresden 1995, 44 S., 16.80 DM