Bremer Birkenstock-Psychiatrie

■ Zu Gast in Bremen: Carmen Roll, Chefin einer Sozialkooperative in Triest, der Zentrale der italienischen Psychiatriereform / Kritik an Bremer Halbheiten

“Warum ist die Bluse der Bedienung im Café Blau fleckig und beschmiert? Warum sagt ihr niemand, daß der Daumen nicht in die Suppe gehört?“ Carmen Roll, Aktivistin aus Triest, der Zentrale der italienischen Psychiatriereform, inspiziert die Psychiatriereform-Provinz Bremen. Was sie sieht, macht sie wütend. An einer der zentralen Errungenschaften der Bremer Psychiatriereform, dem Café Blau, läßt sie kaum ein gutes Haar. „Ein typisches Projekt der Birkenstockgeneration“, schimpft sie. Zum Essen gehe man dorthin aus Solidarität, nicht wegen der Topküche oder des Topservices. Die Café Blau-Jobs seien weder Arbeitsplätze (sonst würden die dort beschäftigten Irren richtiges Geld verdienen), noch Ausbildungsplätze (dann würden sie lernen, wie man kellnert). „Wir müssen weg vom Rand, rein ins Zentrum“, predigt Carmen Roll. Keine schmuddelige Nischenexistenz der Irren und ihrer Betreuer, sondern: „Wir kommen in Stöckelschuhen und Pelzmäntel!“ Carmen Roll ist nicht nur zum Schimpfen nach Bremen gekommen. Sie will den Bremern auch zeigen, daß es geht: gutes irres Leben mittendrin im normalen. Sie will von Triest erzählen.

Im norditalienischen Triest gab es 1970 ein hoffnungslos überbelegtes Irrenhaus mit 1.200 Betten. Zehn Jahre später war es bis auf 250 Betten leer. Heute findet man auf dem Gelände des Irrenhauses die Uni Triest, Schulen, Restaurants, ein Hotel und zwölf Wohngemeinschaften mit ehemaligen Insassen. Die anderen leben in übers Stadtgebiet verteilten Wohngemeinschaften, die von sieben „Zentren für geistige Gesundheit“ betreut werden. Jedes Zentrum hat sechs „Krisenbetten“. Selbst bei schweren psychischen Krisen kommt niemand auf die Idee, Kranke in eine Anstalt abzuschieben – die Institution gibt es nicht mehr. Im restlichen Italien leben noch 20.000 Menschen in Irrenhäusern (von früher 100.000); doch auch diese letzten Häuser werden bis Ende 1996 geschlossen. Das ist die italienische Psychiatriereform.

Carmen Roll ist Chefin einer von fünf „Kooperativen“, die sich um die Triester Wohngemeinschaften mit sehr hohem Betreuungsaufwand kümmern. Wenn diese Arbeit ebenfalls von den öffentlichen Diensten geleistet würde, wäre sie unbezahlbar. Die Kooperativen sind private „Sozialfirmen“, deren Personal hochmotoviert und hochflexibel arbeitet (was dem Vernehmen nach nur ohne gewerkschaftlichen Einfluß möglich ist). Acht und mehr Stunden am Tag kümmern sich diese betreibswirtschaftlich kalkulierenden Firmen um Menschen, die sich nicht waschen können, die nicht einkaufen und kochen können. In zwei bis zweieinhalb Jahren sollen die Betreuten so fit sein, daß sie in die Normalbetreuung der „Zentren für geistige Gesundheit“ eingegliedert werden können.

Die Kooperativen haben zwei Ziele: Den Klienten ein anständiges Leben zu ermöglichen und eine anständige Arbeit zu besorgen. Die Ergebnisse sind eindrucksvoll: Triester Irre bauen Prototypen für Möbeldesigner, betreiben ein Transportunternehmen, einen Verlag, einen Schönheitssalon, eine Baufirma, feine Restaurants. Eine Koop versucht gerade, ein pleitegegangenes Triester Nobelhotel für 6,5 Millionen Mark zu kaufen. „Wir wollen,“ sagt Carmen Roll, „weniger Ethik, dafür mehr Ästhetik.“ Stöckel statt Birkenschuh.

Was sie nicht wollen: zum Beispiel ein Cafe für Irre. Wie das Cafe Blau. Warum wird das witzige und schräge neue Restaurant im Überseemuseum nicht von Irren gemacht? Mitten drin. Frau Roll (seit 20 Jahren in Italien und längst Italienerin) hat von einem Projekt gehört: Eine Frau will mit Irren einen Bio-Supermarkt aufmachen. Natürlich am liebsten in Walle, beim Cafe Blau. Eine gute Idee, findet Frau Roll, aber warum bloß die Randlage Walle??? Warum nicht im „Viertel“ oder in Schwachhausen? Und das Café Blau? Könnte es nicht ein Ort sein, den man um des guten Essens willen aufsucht statt aus Solidarität? Könnte es nicht ein Ort sein, wo die Bauarbeiter einer angrenzenden Großbaustelle ihr Mittagessen plus Bier zum Festpreis kriegen (inklusive saubere Schürzen bei der Bedienung)?

Nicht zuletzt geht es um die Würde der Irren. Was traut man ihnen zu? Was erhofft man sich denn von Leuten, die man nicht einmal der Kritik an ihren verschmierten Kittel für würdig hält? Fragt Carmen Roll.

Burkhard Straßmann

Über die halbe Psychiatriereform in Deutschland, die doppelt soviel kostet, über die Birkenstockhelfer und ihr Stöckelschuhpendant in Triest, wird Carmen Roll heute um 16 Uhr im „Westend“, Waller Heerstr. 294, sprechen. Sie ist Gast der Initiative zur sozialen Rehabilitation ... e.V.,