Ein herrlich' Abend klinget hin

Mit einem EM-Qualifikations-Sieg gegen Bulgarien will Wirtschaftswunder-Waise Berti Vogts sich heute sein Glück tugendhaft verdienen  ■ Aus Berlin Peter Unfried

Der Bundestrainer ist bekanntlich ein veritabler Freund der Kunst. Und so hat Berti Vogts (49) gestern die Gelegenheit gerne genutzt, sich draußen vor der Tür des Presseraumes mit Lyrik auseinanderzusetzen. Gottfried Hase (79), Skulpteur aus Bautzen und über Jahrzehnte treuer Freund sämtlicher deutschen Nationalauswahlen, hat Vogts mit einem eigens geschaffenen EM-Qualifikations- Poem erfreut. „Nur gewinnen ist unser Ziel / im bedeutendsten Super-Jahresspiel“, heißt es darin.

Das ist wahr: Es zeigt auch drastisch die Diskrepanz zwischen Kunst und Fußball auf. Während da die Qualitätskriterien bisweilen schwammig und immer umstritten sind, ist dort alles simpel. „Wir wollen gewinnen, wir dürfen nicht verlieren“ (Vogts). Nun ganz simpel ist es auch wieder nicht, selbst eine Niederlage gegen den Gruppenersten Bulgarien könnte reichen, sich für die EM-Endrunde in England zu qualifizieren.

Aber es geht natürlich wie immer um mehr – und tatsächlich auch um die Vogts' Zukunft. Den sehr unwahrscheinlichen Fall der Nicht-Qualifikation einmal ausgeklammert: Nur ein anständiger Sieg wird dem Bundestrainer ein einigermaßen gemütliches Weiterarbeiten ermöglichen. Zwei Niederlagen, „die wirklich schmerzlich waren“ (Klinsmann), haben, man kann es gern sagen, dem Nationalbewußtsein Schmerzen zugefügt, vergleichbar nur noch mit jenen, die der verletzte Andreas Möller im Moment erleidet.

Und dem „tut es wirklich weh“, wie Vogts weiß, den es als Spieler einst auch zwischen den Oberschenkeln erwischt hatte. Das WM-Viertelfinal-Aus nach 1:0-Führung? „WM, Giants Stadion, wenn man auf das Thema kommt“, sagt der Kapitän Klinsmann, „das nervt immer noch.“ Den Bundestrainer angeblich noch viel mehr die Hinspielniederlage von Sofia, bei der man gar mit zwei Toren vorngelegen hatte. Diesmal, hat Hristo Stoitschkow angeblich wissen lassen, würde man gerne auch einen 0:3-Rückstand aufholen. „Ein sehr nettes Zitat“ sei das, findet Vogts. Aber es trifft den Mann, der weiß, wo es weh tut, genau dort, wo es weh tut. Ist es soweit, daß die anderen plötzlich nicht mehr kuschen, sondern frech werden? Wenn ja, wer hat daran Schuld, bitte?

„Wir kennen die Stärken der Bulgaren“, behauptet Vogts. Benennen mag er aber nur „die überragenden Einzelspieler“, insbesondere die fünf Offensivkräfte. Das Rezept, die „russische Verteidigung“ (Vogts) der Slawen zu knacken, steht aber fest: „Tempo hochhalten und Pressing spielen“ (Klinsmann). Was, sagt Vogts, damals fehlte, heute zurückgeholt werden muß: jene Qualitäten zukommen, die weltweit als „deutsch“ gefürchtet sind.

Das sind nun allerdings nicht gerade die, die Mario Basler (27) einzubringen weiß, und dennoch wird der Bremer mitmachen. Ganz vorne nicht, der wird Fredi Bobic wohl den adduktoren-geschädigten Herrlich ersetzen, aber dahinter ist durch Möllers Ausfall eine Stelle vakant. Außerdem ist die Wahrscheinlichkeit, daß es einen Freistoß geben könnte, hoch. Die Wahrscheinlichkeit, daß Mario Basler Freistöße in Tore verwandelt, auch. Doch hat der in dieser Frage dem Trainer einen kleinen Tip gegeben: „Um ihn zu schießen, muß ich spielen.“ Na ja, ein Scherz. Wie überhaupt viel gescherzt wird derzeit. „Hervorragend“ ist nämlich derzeit: die Stimmung, die Laune, die Atmosphäre, die „Entwicklung der Mannschaft“. Das Team, auch dessen spielerisches Potential, wähnt Vogts nun an einem Punkt, „an dem es schade wäre, wenn es keinen Sieg gäbe“.

Es geht ja auch viel Arbeiten und Streben des Trainers Vogts seiner Meinung nach in die Richtung, sich „mit unseren spielerischen Mitteln durchzusetzen“. Doch ist da auch die eigene Vita, die dem Wirtschftswunder-Waisen anderes ins Hirn gebrannt hat. Spielerisch zu sein, meint für ihn nicht zuletzt auch, wie in New York und Sofia, Mangel an Tugend, an Ernsthaftigkeit an den Tag zu legen. Für die Untugend seines Teams wurde er bestraft. Hauptsächlich Glück, will Vogts ganz fest glauben, habe ihm bisher als Trainer zum großen Wurf gefehlt. Und noch fester glaubt er an den obersten Grundsatz des marktwirtschaftlichen Systems: „Glück muß man sich verdienen.“ Was auch bedeutet: Wer keines hat, ist selbst schuld.

Bevor er nach Bautzen zurückgekehrt ist, hat Bildhauer Hase dem verehrten Bundestrainer Mut gemacht. „Ein herrlich Abend / so klingt er hin“, endet nämlich seine gereimte Vision, „Ihr seid die Helden von Berlin.“ Ist heute nacht gewonnen, es wird in Vogts' Ohren die größte Kunst sein.