Der Stolz, eine deutsche Partei zu führen

Er wurde nie Kanzler, trotzdem gehört der Sozialdemokrat Kurt Schumacher zu den Siegern der Nachkriegsgeschichte. Peter Merseburger beschreibt einen unversöhnlichen Gegner von Adenauers Politik der Westbindung  ■ Von Rudolf Scharping

Wem flößte das Leben dieses Mannes nicht Respekt ein? Wer könnte sich der Faszination dieser außerordentlichen Mischung von Prinzipientreue, Opferbereitschaft und Eigensinn entziehen, die von der Vita Kurt Schumachers ausgeht? Man muß kein Sozialdemokrat sein, um Bewunderung für diesen Mann zu empfinden, den ein unerbittliches Schicksal so beutelte wie nur wenige jener Politiker, die mit ihm nach dem verlorenen Krieg versuchten, in Deutschland eine Demokratie auf solideren Fundamenten zu errichten, als sie der Weimarer Republik beschieden waren. Als ich im Sommer dieses Jahres die Gedenkstätte im ehemaligen KZ Dachau besuchte, wurden natürlich auch Erinnerungen an den ersten SPD- Vorsitzenden nach dem Ende der Nazi-Barbarei auf ergreifende Weise wieder wach. Mutig hatte er den Nationalsozialisten Widerstand entgegengesetzt. Im Reichstag hatte er ihnen entgegengeschleudert: „Dem Nationalsozialismus ist zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit die restlose Mobilisierung menschlicher Dummheit gelungen.“ Das haben die Nazis ihm nie verziehen. In Dachau wurde seiner Physis Übermenschliches abverlangt. Im Ersten Weltkrieg hatte er einen Arm eingebüßt. Den Schergen des NS-Staates war der Sozialdemokrat Schumacher aber zu gefährlich, um ihn auch nur ins Ausland abzuschieben. Schumacher selbst hätte den Weg ins Exil suchen können. Er, der Preuße und leidenschaftliche Patriot, schlug ihn bewußt nicht ein. In den zehn Jahren, in denen die Nationalsozialisten versuchten, Schumachers Unbeugsamkeit zu brechen, reifte in ihm die Überzeugung, daß dieses Opfer, das er und andere Sozialdemokraten erbrachten, sie berechtigen würde, in der Zeit nach Hitler die politische Führung Deutschlands zu stellen.

Diese Erwartung sollte sich nicht erfüllen. Bis es soweit war, daß die SPD in dem Teil Deutschlands, der sich der Demokratie verschrieben hatte, den Regierungschef stellen sollte, vergingen lange Jahre. Kurt Schumacher starb siebzehn Jahre zuvor.

Die Schumacher-Biographie aus der Feder des angesehenen politischen Publizisten Peter Merseburger, die rechtzeitig zu den zahlreichen Schumacher-Feierstunden erschienen ist, die diesen Herbst prägten, liefert ein anschauliches, sehr lebendiges Bild dieses politisch geprägten Lebens, das mehr durch Leiden denn durch Erfüllung charakterisiert ist. Nicht, daß es der erste Einblick in das Leben dieses ungewöhnlichen Sozialdemokraten ist. Vor Merseburger haben sich schon andere Autoren diesem Lebenslauf zugewandt, der so sehr viel andere Stationen mit überwiegend bitteren Erfahrungen aufweist als all die Lebensläufe unserer heutigen Politikergeneration, die sich erst der Politik zuwandten, als die Bundesrepublik demokratisches Profil gewonnen hatte. Was Merseburgers Biographie rechtfertigt, sind nicht nur einige neue Nuancen, die sich aus dem Studium frühen in der DDR aufbewahrten Quellenmaterials ergeben haben, es ist auch der gelungene Versuch, den privaten Menschen Schumacher hinter Parteiprogrammen, politischem Streit und Krankheit ausfindig zu machen. Nicht durch die Schlüssellochperspektive, wie es heute allzuoft praktiziert wird. Ohne jedes Pathos und sehr feinfühlig beschreibt Merseburger Schumachers Partnerschaft, vor wie nach dem Kriege. Merseburger hebt Kurt Schumacher nicht auf ein Podest der Unerreichbarkeit und Einzigartigkeit. Der Autor bleibt nüchterner Analyse verpflichtet, durchsetzt von respektvoller Sympathie. Schumachers zu gedenken ist für einen Sozialdemokraten, der in den achtziger und neunziger Jahren desselben Jahrhunderts politische Verantwortung trägt, kein bloßer Akt der Traditionspflege. Es ist aber eine Gelegenheit zur Selbstbesinnung, zum Lernen und, so empfinde ich es, auch eine Chance zur Selbstprüfung. Schumachers Verdienst war es zweifellos, eine traditionsreiche Partei, die nicht nur Bismarcks Sozialgesetz, sondern auch der Nazidiktatur – was gewiß schwerer war – getrotzt hat, nach dem Krieg mutig und dabei ungeheuer selbstbewußt wiedergegründet zu haben. Mehr als viele andere hat Kurt Schumacher dafür gesorgt, daß die Demokratie in der Bundesrepublik verläßlich Fuß fassen konnte und in einem effektiven Bundesstaat gedeihen konnte. Er wollte, daß dieser neue demokratische deutsche Staat über wirksame Instrumente verfügt, die eine erfolgreiche Politik des sozialen Fortschritts ermöglichten.

Und Schumacher verlor nie aus den Augen, daß das Ziel deutscher Politik die Wiedervereinigung sein müsse. Merseburgers Befund, daß, wenn schon im Zusammenhang mit den Jahre 1989 und 1990 von Siegern der Geschichte gesprochen werde, auch „auf eine Weise“ Kurt Schumacher zu ihnen gehöre, hat einen wahren Kern. Schumacher hatte seinem Widersacher Konrad Adenauer stets vorgeworfen, daß dieser der Westintegration der Bundesrepublik Vorrang vor einer konsequenten Wiedervereinigung einzuräumen schien. Merseburger interpretiert Schumachers Gefühle: Er habe in dieser Politik einen „Verstoß gegen die nationale Solidarität“ gesehen. Der Autor spekuliert freilich, daß eine Wiedervereinigung etwa auf der Basis der Stalinschen Offerte von 1952 für die Mehrheit der Deutschen, das heißt also für die Westdeutschen, der sehr viel beschwerlichere Weg zur Einheit gewesen wäre. Es gibt aus meiner Sicht jedenfalls keinen Grund, die Deutschlandpolitik Schumachers in einen Gegensatz zur Deutschlandpolitik Willy Brandts zu rücken. Die Zeiten, das heißt die Voraussetzungen, hatten sich geändert. Vergleiche zwischen der unmittelbaren Nachkriegszeit und den späten sechziger Jahren sind deshalb nicht statthaft. Bestimmt waren beide Politikansätze von dem Willen, den Zusammenhalt der Menschen in Deutschland zu erhalten und durch politische Kooperation, durch Gespräche und Kontakte die Chance einer Annäherung der beiden deutschen Staaten zu wahren.

Schumacher wäre, daran zweifle ich nicht, ein Verfechter der sozialdemokratischen Ostpolitik gewesen. Auch aus dem ganz einfachen Grund, daß er ein politischer Realist von hohem Grad war. Er wußte und hatte es mehrfach gesagt, daß sich der Wirklichkeit Dogmen nicht aufzwingen lassen, sondern daß die Kraft zur Gestaltung der Wirklichkeit nur gewinnt, wer sich auf ihre Bedingungen kundig, vorurteilsfrei und nüchtern einzulassen versteht, ohne die eigenen politischen Ziele aus den Augen zu verlieren.

Schumacher ist mit Adenauer nie zimperlich umgegangen. Dahinter verbarg sich gewiß auch Schumachers Enttäuschung darüber, daß sich sein aus der Standhaftigkeit gegenüber den Nationalsozialisten abgeleiteter Anspruch auf die Kanzlerschaft nicht erfüllt hatte. Was seiner Politik, seiner „intransigenten Opposition“, wie Merseburger schreibt, aber gewiß nicht zugrunde lag, waren nationalistische Neigungen. Ihm waren Deutschtümelei und nationale Arroganz fremd, nicht aber der Stolz, eine deutsche Partei zu führen. Es sollten und konnten nur die Vorbilder politischer sozialer Institutionen sein, mit denen sich der Patriot Schumacher identifizieren wollte. In Merseburgers Biographie finden sich ausreichend Belege dafür, daß Schumacher Deutschland, möglichst natürlich das vereinte, als Teil eines geeinigten demokratischen und sozialen Europa sehen wollte. Schumachers Nachfolger an der Spitze der deutschen Sozialdemokraten haben, weil sie denselben Traditionen und Überzeugungen verpflichtet sind, entscheidende Beiträge dazu geleistet, daß die Vision eines immer einiger werdenden Europa Wirklichkeit geworden ist. Es ist ganz unbestreitbar im Sinne Schumachers, wenn die deutschen Sozialdemokraten darauf achten, daß die Wiedervereinigung Deutschlands nicht einem trüben Nationalismus neuen Auftrieb gibt. Heute haben wir die Chance, die Europäische Union nach Osteuropa hin zu erweitern. Die SPD wird, verpflichtet ihrer tiefverwurzelten (schon im Heidelberger Programm von 1925) Idee eines vereinten Europa, beharrlich und zielstrebig an diesem Prozeß mitwirken, um solide Ergebnisse zu erzielen.

Peter Merseburger: „Der schwierige Deutsche Kurt Schumacher“. DVA, Stuttgart 1995, 544 Seiten, 58 DM