High Noon in den USA

Die USA sind zahlungsunfähig, 800.000 Angestellte auf Urlaub und noch keine Lösung in Sicht  ■ Aus Washington Andrea Böhm

„Essentiell“ ist ein Adjektiv, das am Dienstag morgen in den USA gewissermaßen essentielle Bedeutung erlangt hat. Wer als „essentieller“ Mitarbeiter im Staatsdienst eingestuft wird, darf – und muß – trotz der Zahlungsunfähigkeit der US-Regierung weiter arbeiten. Wer nicht in diese Kategorie fällt, befindet sich bis auf weiteres im unbezahlten Zwangsurlaub, nachdem in der Nacht zum Dienstag letzte Verhandlungen zwischen Präsident Bill Clinton und den Führern der republikanischen Kongreßmehrheit über einen Überbrückungshaushalt gescheitert waren. Fluglotsen, Postboten, FBI-Beamte, Gefängnisaufseher und Militärs bleiben im Dienst, erhalten ihr Gehalt aber erst nach der Verabschiedung eines Überbrückungshaushalts.

Die rund 800.000 „nicht essentiellen“ Bundesangestellten, darunter allein 150.000 in der Hauptstadt Washington, sind somit die ersten Opfer des Nervenkriegs zwischen Weißem Haus und US-Kongreß. Betroffen sind unter anderem Museumsmitarbeiter, Bibliothekare, Sachbearbeiter in Sozial-, Steuer-, Gesundheits- oder Einwanderungsbehörden, Ranger in den Nationalparks, Richter und Staatsanwälte an Zivilgerichten, drei der vier Chefköche im Weißen Haus, der Mitarbeiterstab von First Lady Hillary Clinton sowie das Kantinenpersonal des Senats. Die Abgeordneten und der Präsident samt seinen Beratern gelten als „essentiell“. Ihre fortlaufende Bezahlung ist für den Fall der Zahlungsunfähigkeit des Bundes per Gesetz gesichert.

Der Umstand, daß die Politiker nicht ausbaden müssen, was sie angerichtet haben, erhöht in der US- Bevölkerung nicht gerade das Verständnis für die Zunft. „Präsident und Parlamentarier“, so warnte die Washington Post gestern in einem Leitartikel, „könnten schnell entdecken, daß die Wähler diese leicht zu vermeidende Zahlungsunfähigkeit der Regierung nicht als Demonstration von Prinzipientreue, sondern als Inkompetenz interpretieren.“

Sowohl im Weißen Haus wie unter den Republikanern im Kongreß spekuliert man jedoch darauf, daß die Bevölkerung die Schuld für die teilweise Schließung der Bundesbehörden beim jeweiligen politischen Gegner sucht. Bill Clinton hatte am Montag zwei Gesetzesvorlagen des Kongresses für einen Überbrückungshaushalt und eine Erhöhung des Kreditrahmens mit einem Veto versehen, weil diese an den Abbau von Sozial-, Umwelt- und Bildungsprogrammen gebunden seien.

Die Republikaner hatten ihrer Vorlage für einen Überbrückungshaushalt insgesamt 112 Seiten voller Zusatzbedingungen beigefügt, die von der Erhöhung der Krankenkassenbeiträge für Senioren bis zu Maßnahmen zur schnelleren Vollstreckung von Todesurteilen reichten. Gegen letzteres hat der US-Präsident nichts einzuwenden – allerdings erklärte Clinton die vorgesehene Erhöhung der Beiträge für „Medicare“ zum Grundsatzkonflikt und legte sein Veto ein.

Dahinter steckt nun nicht nur Wahlkampfkalkül. Am 1. Oktober hat in den USA offiziell das neue Haushaltsjahr begonnen. Das Gesamtbudget ist nicht zuletzt dank massiver Meinungsverschiedenheiten innerhalb der republikanischen Mehrheit immer noch nicht verabschiedet. Der Kongreß wird dem Präsidenten wohl Ende dieser Woche eine endgültige Fassung vorlegen, die massive Ausgabenkürzungen im Sozial-, Bildungs-, Umwelt- und Gesundheitsbereich vorsieht. Damit wollen die Republikaner sowohl eine Steuersenkung für obere und mittlere Einkommensschichten finanzieren als auch ihr Versprechen halten, bis zum Jahr 2002 den Staatshaushalt auszugleichen.

Clinton hat sein Veto gegen das Haushaltspaket bereits angekündigt – er wird den Republikanern im Wahlkampf massivsten Sozialabbau vorwerfen. Diese Strategie im aktuellen Streit um den Überbrückungshaushalt an „Medicare“ festzumachen, trägt dem Umstand Rechnung, daß Senioren in den USA ein wichtiges Wählerpotential darstellen.

Von Kompromißbereitschaft war am Dienstag morgen auf dem Kapitol und im Weißen Haus noch nichts zu hören. John Kasich, Architekt des republikanischen Haushaltsplanes im Repräsentantenhaus, erklärte fast vergnügt, er komme sich vor wie Gary Cooper in „High Noon“. „Irgendwann treten wir aus dem Saloon auf die Straße – und wenn es zum Kampf kommt, kommt es eben zum Kampf.“

Die Clinton-Regierung ließ diese Metapher unkommentiert, vermeldete aber, daß der Präsident die Reise zum Wirtschaftsgipfel in Tokio auf eine kurze Stippvisite zusammenstreiche.