Der Zug ist abgefahren

■ Die Deutsche Bahn feiert heute den 100. Geburtstag des Bahnhofs Altona: Ein Nachruf zum vermeintlichen Jubiläum Von Polly Schmincke

Vor über hundert Jahren schmiedete der Bahnhofsbaumeister Georg Eggert große Pläne für Altona. Denn Hamburgs kleine Schwester wollte ja hinter der Hansestadt nicht zurückstehen, die sich Ende des 19. Jahrhunderts einen prachtvollen Bau für seinen Schienenverkehr errichtete.

Ein Jahrhundert ist vergangen, seit Eggerts Pläne verwirklicht wurden und Altona seinen neuen Bahnhof bekam, der am 16. November 1895 feierlich eröffnet wurde. Heute feiert die Deutsche Bahn sein großes Jubiläum „mit köstlichen kulinarischen und kulturellen Leckerbissen“ und dergleichen. Anlaß für einen besinnlichen Rückblick auf die bewegte Geschichte des Altonaer Hauptbahnhofes und die Frage, was hier eigentlich gefeiert werden soll – denn tatsächlich wurde Eggerts Prachtstück 1973 ja abgerissen.

Zu wilhelminischen Zeiten aus der Erde gestampft, überstand der neugotische Backsteinbau mit Türmen und gußeisernen Bahnsteighallen den Ersten und den Zweiten Weltkrieg. Doch Anfang der 70er Jahre wurde der vermeintliche Jubilar den Stadt-Chirurgen ans Messer geliefert. Die hatten nämlich damals keine Augen für seine prächtige Erscheinung. Faszinierender fanden die regierenden Senatoren die Vorstellung, die Straßenbahn abzuschaffen und dem Bahnhof unterirdische S-Bahnsteige zu verpassen. Nicht zu teuer sollte das werden. Aber das wäre es geworden, hätte man das alte Gesicht des Bahnhofs retten wollen.

Als der Denkmalschützer Manfred Fischer, der heutige Leiter des Denkmalschutzamtes, 1973 nach Hamburg kam, war der Zug abgefahren. Obwohl man, weiß Fischer heute, den spröde gewordenen Backsteinbau in den 60er Jahren noch hätte retten können. Aber in den 70ern war–s zu spät – das Planfeststellungsverfahren abgeschlossen war. Man fand den Prachtbau eben zu alt und rissig, und 1973 wurde er nicht geliftet oder verjüngt, sondern vollkommen plattgewalzt. Von dem Jubilar, der heute gefeiert werden soll, war nichts mehr übrig. An die Stelle des alten Bahnhofs, mit dessen Ausverkauf die DB ihre Bilanzen aufzubessern trachtete, wurde ein häßlicher Zweckbau hingeklotzt – ein Kaufbahnhof oder Kaufhaus mit Gleisanschluß. Heute bedauern das selbstverständlich alle, und keiner will's gewesen sein. Die Modernisierer hatten übersehen, daß sie „das Herz Altonas herausgerissen hatten“, wie Denkmalschützer Fischer bedauert, und „daran krankt der Stadtteil noch heute“. Wer kann schon ohne ein vernünftiges Herz leben? Entsetzlich sei das, „die Ödnis der Ödnis“. Da gebe es nichts zu feiern, der hundertste Geburtstag könne höchstens Anlaß zu einem Nachruf sein.

Ein Nachruf auch, weil die DB Anfang 1995 den einstigen Verkehrsknoten durch ein neues, EDV-gesteuertes Stellwerksystem so komplett vertüdelte, daß heute nicht mal mehr darauf Verlaß ist, ob ein bestimmter Zug wirklich in Altona abfährt oder hält. Die Elektrifizierung der Strecke nach Kiel nahm dem Bahnhof ein weiteres Fünftel seiner Personenzugverbindungen. Na, herzlichen Glückwunsch!