Reden geht nur im Kreis

■ Die taz und das Berliner Ensemble luden Potsdamer Jugendliche zu einem Gespräch mit dem Kinderensemble von "Im Schlagschatten des Mondes" ein

In der Kantine des Berliner Ensembles toben sie über Stühle und Bänke, kippen den Orangensaft rücksichtslos über die Tischplatte und brüllen ungezügelt durcheinander: Acht Jungen und drei Mädchen zwischen 10 und 14 Jahren feiern – nein, nicht Kindergeburtstag, sondern ihre letzte Vorstellung. Seit dem 7. Mai dieses Jahres haben sie an 17 Abenden auf der Bühne am Bertolt-Brecht- Platz gestanden und „Im Schlagschatten des Mondes Hänsel und Gretel“ gespielt, eine Inszenierung von Thomas Heise nach Texten von Michael Wildenhain. In ihren Rollen haben sie vom „Ficken“ erzählt und eine S-Bahn-Szene gespielt, in der einer mit Schlagstöcken niedergeprügelt und zum Hitlergruß gezwungen wird. „Perfekt dressierte Sprechautomaten“, schimpft eine Besucherin nach der Vorstellung. „Die verstehen ja gar nicht, was sie spielen.“

In der Kantine weist Matthias das empört von sich. Im Stück verwandelte er sich in Max, einen Jungen, der von Skins abgestochen wird, weil er einem Schwarzen helfen will. „Max ist die Realität“, sagt Matthias. „Und auch Skins sind Realität. In der S-Bahn sind ja dauernd welche. Und die meisten Leute wissen gar nicht, wie brutal die sind.“ Gewalt ist jedem der Kinder im Ensemble schon begegnet, und natürlich gehört das Wort „Ficken“ zu ihrem Alltagswortschatz – auch wenn ihre Mütter das nicht wahrhaben wollen.

Acht Jugendliche aus Potsdam im Alter zwischen 16 und 19 Jahren sind auch in der Kantine und haben sich unter die Kinder gemischt. Auf Einladung des Berliner Ensembles und der taz waren sie erst in der Vorstellung und haben jetzt die Möglichkeit, mit den Schauspielern und dem Regisseur zu diskutieren. Das Gespräch kommt nicht so recht in Gang – wohl auch, weil erst einmal der Streß der Vorstellung von den Kindern abfallen muß, sie sich erst einmal austoben müssen. Die Potsdamer Truppe um den Theaterpädagogen Lorenz Hippe gehört zum Jugendclub des Hans-Otto-Theaters. Die acht Jugendlichen sind erfahrene Theatergänger: Das Angebot des Clubs reicht von Probenbesuchen über Gespräche bis hin zu der Möglichkeit, eigene Inszenierungen auf die Beine zu stellen. Das letzte Projekt der PotsdamerInnen hatte Ende August Premiere: „Ratten zum Tee – Etappen einer Aufzucht“, eine Collage aus eigenen Texten und dem Stück „Der Kinder Segen“ des britischen Dramatikers Howard Brenton. Vom Theater sind sie alle fasziniert, und der erste von ihnen darf im Dezember in der Schauspielschule Ernst Busch vorsprechen. Doch trotz ihres großen Interesses kommen die ersten Fragen nur zögernd, die Älteren sitzen eher abwartend am großen Tisch und betrachten die Jüngeren erst einmal. Unsicherheit auf beiden Seiten – Unsicherheit, die die Jüngeren durch Arroganz wettmachen wollen: „Fragt uns doch einfach! Wenn ihr was wissen wollt, müßt ihr einfach zu uns kommen!“ brüllt einer mit ausladenden Armbewegungen, die erwachsen wirken sollen. Die PotsdamerInnen schweigen. „So hat das keinen Zweck“, sagt Regisseur Thomas Heise schließlich. „Wenn ihr miteinander reden wollt, dann geht das nur im kleinen Kreis.“

Und tatsächlich, nachdem sich die starre Tischordnung aufgelöst hat, kommen viele Gespräche in Gang: Wie seid ihr zum Berliner Ensemble gekommen? Der Regisseur ist durch die Schulen gegangen und hat gefragt, wer Interesse hat. Wie lange habt ihr geprobt? Sechs Wochen. Bekommt ihr Geld für eure Auftritte? 200 Mark pro Abend. Habt ihr euch vorher schon gekannt? Nein. Was halten eure Eltern davon, daß ihr auf der Bühne ganz cool vom Ficken redet? Na ja. „Meine Eltern waren in der Premiere“, erzählt Matthias. „Mein Vater fand es ganz toll, meine Mutter nicht so.“

Wenn die Kinder nicht mehr im Pulk toben, können sie sehr genau zuhören – und ihre Antworten beweisen, daß der Regisseur sich mit seinen Darstellern außergewöhnliche Persönlichkeiten ausgesucht hat. Alle wissen ganz genau, was sie auf der Bühne tun, haben auch oft miteinander über das Stück gesprochen. „Ich hätte das mit 13 Jahren nicht spielen können“, sagt ein Mädchen aus Potsdam, lange nachdem die Kinder bereits gegangen sind. Doch was da mitschwingt, ist nicht so sehr Respekt vor der Leistung der Kinder als vielmehr Verwunderung über deren Professionalität. Margot Weber

„Schultheater trifft das Berliner Ensemble“. Infos: taz: 25902-264