Durch die Liebe zur Revolution

1940 folgte die Fotografin Eva Siao ihrem Mann nach China. Über Lebensleistung und Lebenslügen der unpolitischen Kommunistin  ■ Manfred Otzelberger

Wenn Eva Siao heute durch Berlin geht, empfindet sie eines mit Sicherheit nicht: Heimweh nach Deutschland. „Mir reicht es, wenn ich einmal im Jahr hierher komme. Hier möchte ich nicht leben. Ich habe ja keine Freunde mehr hier“, sagt die zierliche Frau, die seit 46 Jahren in Peking wohnt.

Die 84jährige Fotografin, die derzeit in Berlin Aufnahmen aus dem Tibet der fünfziger Jahre ausstellt, blickt auf ein Leben voller politischer Brüche zurück: „Ich habe im Negativen immer das Positive gesehen, auch als ich während der Kulturrevolution sieben Jahre im Gefängnis saß. Da habe ich Chinesisch lesen gelernt und Maos Schriften studiert. Die totale Einsamkeit in der Einzelhaft tat mir gut, ich begriff, wie oberflächlich ich gelebt hatte.“

Vier Jahre vor der NS-Zeit emigriert die Jüdin, die nie ihre Religion ausgeübt hat, nach Schweden, ihre Tante und ihre Großmutter sterben später im KZ. Als die junge Breslauerin im Herbst 1934 nach Rußland reist, um die Segnungen des Sozialismus zu bestaunen, begegnet sie am Schwarzen Meer ihrer großen Liebe: Emi Siao, der erste Chinese, den sie je sah. Er ist Kommunist und Dichter, sie eine junge Filmstudentin aus gutbürgerlichem Haus, politisch ein unbeschriebenes Blatt.

Ihre Blicke kreuzen sich, beide spüren „einen unbeschreiblichen Zauber“, schreibt sie später in ihrer Autobiographie „China – mein Traum, mein Leben“. Wenn es Liebe auf den ersten Blick gibt, dann hier. Eva beginnt sofort Russisch zu lernen, um wenigstens ein paar Worte mit ihm sprechen zu können. Der 38jährige Intellektuelle schickt der 23jährigen Arzttochter dunkelrote Rosen. Eva willigt ohne Zögern in die Ehe ein. Eines war ihr klar: „Wenn ich Emi heiraten wollte, mußte ich den Weg der Revolution beschreiten.“ Ihre drei Söhne „wurden an symbolischen Plätzen geboren. Lion 1938 in Moskau, das damals als Zentrum der Weltrevolution galt. Vitja 1941 in Yan'an, dem Zentrum der chinesischen Revolution. Heping 1950 in Peking, der Hauptstadt des befreiten Chinas.“

Aus Liebe wird Eva zur Revolutions-Mitläuferin. „Ich wurde in die Politik reingeschmissen, ich war dabei.“ Sie folgt ihrem Mann zu Mao nach China, wohnt mit ihm in den Felshöhlen Yan'ans. Bis es kriselt und Eva Anfang 1944 in die Sowjetunion zurückgeht. In der unwirtlichen Steppe Kasachstans bringt sie ihre Kinder durch den Krieg. Erst 1949 sieht sie Emi in Moskau wieder und kehrt nach China zurück. Eva wird von der Aufbruchstimmung angesteckt, aber in die KP tritt sie nie ein, weil sie sich frei fühlen will. Sie tut das, was sie am besten kann: fotografieren. „Ich war so begeistert von China, ich glaubte, hier wird das Verfaulte mit der Wurzel ausgerissen und es entsteht das strahlend Neue.“

Sie arbeitet ab 1958 für den Deutschen Fernsehfunk der DDR, aber als Zhou Enlai ihr 1964 endlich die chinesische Staatsbürgerschaft verleiht, gibt sie den Job auf: Die ideologischen Probleme zwischen China und der Sowjetunion – und damit auch der DDR – waren ihr nicht entgangen. Eva Siao wollte nicht provozieren.

Genützt hat ihr dies wenig. Am 23. Juni 1967 wird sie als DDR- Spionin mit ihrem Mann verhaftet. Endlose Verhöre folgen: keine Besuche der Söhne, keine Zeitungen, keine Verhandlung. Sieben Jahre und drei Monate dauert die Tortur. Zeit, um das Kapital von Karl Marx zu lesen, Zeit, um mangels Tinte mit Blut Briefe an ihren Mann zu schreiben, ahnend, daß sie nie ankommen.

1974 werden Eva und Emi Siao entlassen, aber noch nicht rehabilitiert. Das geschieht erst nach Maos Tod und dem Sturz der „Viererbande“. Eva erhält einen Job in einer Filmagentur. Im Zentrum Pekings bekommen sie eine großzügige Sechzimmerwohnung zugewiesen, hier wohnt sie heute noch mit der Familie ihres Sohnes Vitja.

1983 stirbt ihr Mann. Eva Siao, die sich schon mal zwischendurch in andere Männer verliebt hatte, glaubt zwar immer noch, daß ihr Mann wiederkommt, aber das ist wohl einer ihrer sympathischsten Irrtümer. Andere Meinungen kann man schon als gutgemeinte Lebenslügen einer unbeirrbaren Anwältin Chinas ansehen. Ihre Sprüche schmeicheln dem Regime und scheinen doch aus echter Überzeugung zu kommen. So war das Massaker am Platz des Himmlischen Friedens für sie gar keines – und wenn doch Blut floß, ist die Schuld klar: „Die Studenten haben sich wie die Bestien benommen. Sie warfen mit Steinen, begossen die Tanks mit Benzin und verbrannten die Soldaten. Haben Sie einen toten Studenten gesehen?“

Realitätsverlust oder Nicht-hinschauen-Wollen? Zur aktuellen Menschenrechtslage in Tibet will sie nichts sagen, nur soviel: „Tibet ist friedlich von einer korrupten Regierung befreit worden. Chinas KP hob immerhin die Sklaverei auf. Drei Viertel der Tibeter waren Leibeigene. Die Zerstörungen durch die Roten Garden gab es ja auch in China.“

Auch die Öffnung Chinas zum Kapitalismus sieht Eva Siao skeptisch: „Prostitution, Drogen, Kriminalität gab es früher nicht.“ Zwangsabtreibungen? Ja sicher, eine schlimme Sache, aber nötig. „Es kommen ja immer noch genug Mädchen auf die Welt.“ Die real existierende Gerontokratie der chinesischen KP? Durchaus kritikfähige Leute, glaubt man Eva Siao. „Auf dem 12. Parteitag haben Sie die Fehler der Kulturrevolution eingestanden. Hat Kohl schon einmal gesagt, daß er was verkehrt gemacht hat?“

Und Mao, immer wieder Mao. Auf ihn läßt Eva Siao nichts kommen. Er war ihr Idol auch während ihrer Haft. „Wenn er gegen seine eigene Theorie gehandelt hat, ist das sein Problem. Die Enthüllungen seines Leibarztes über die sexuelle Ausbeutung junger Mädchen kann ich nicht glauben, Bettgeschichten interessieren mich nicht.“

Die Weltfrauenkonferenz, bei der sie vielen etwas über ihr einmaliges Leben und China hätte erzählen können, hat sie geschwänzt. „Ich hasse Kongresse, ich bin ein Mensch der Bewegung, ich wußte vorher, daß da nichts rauskam.“ Sie ist lieber in die Türkei gefahren, wo sie einen Dokumentarfilm dreht: „Der Sinn des Lebens“, heißt er und ist garantiert unpolitisch. Davon versteht Eva Siao viel. Die Frau, die immer eine unpolitische Kommunistin war, verkündet ihre Philosophie so überzeugend, daß man ihr jede politische Kaltherzigkeit verzeihen möchte: „Immer wieder aufstehen, wenn man hingefallen ist. Wenn man nur Angenehmes erlebt, wird das Leben uninteressant. Alles, was du brauchst, ist in dir.“