■ Mit Vietnam auf du und du
: Tigerbaby ohne Deutsche

Hanoi/Berlin (dpa/AFP/taz) – Industrievertreter Helmut Kohl, der ab heute für vier Tage in Vietnam weilt, will der deutschen Industrie zu Aufträgen dortselbst verhelfen. Hilfe scheint nötig zu sein, denn die Deutschen stehen mit weniger als 70 Millionen Mark gerade mal an Platz 23 der Investoren- Rangliste. Und das in einem Land, das mit etwa neun Prozent Wachstum in diesem Jahr als neues fernöstliches Tigerbaby gehandelt wird. Allein in den ersten sechs Monaten 1995 sagten Ausländer 3,6 Milliarden Dollar für Investitionen zu – zum allergrößten Teil kommen sie aus Taiwan und Japan.

Die einstige Vietnam-Euphorie ist in deutschen Wirtschaftskreisen inzwischen einem allgemeinen Lamento gewichen: Zu undurchschaubar und korrupt sei die Bürokratie, zu unsicher die rechtliche Situation, zu schlecht die Infrastruktur, zu horrend die Kosten – allein schon für die Mieten, die mittlerweile in Hanoi auf dem Niveau von New York oder Tokio angelangt seien. Und die Kaufkraft der Bevölkerung ist mit einem durchschnittlichen Pro-Kopf-Sozialprodukt von nur 200 US-Dollar nach wie vor ausgesprochen gering. Etwas verdienen läßt sich in Vietnam nach wie vor fast nur mit Ausrüstungs- und Infrastrukturinvestitionen.

Vor allem aber sind den meisten Deutschen die unternehmerischen Risiken zu hoch. Die staatlichen Hermes-Bürgschaften für deutsche Exportrisiken wurden zwar im Vorfeld der Kohl-Reise von 100 auf 150 Millionen Mark angehoben, doch das sei immer noch zuwenig, moniert ein deutscher Geschäftsmann in Hanoi: „Eine einzelne Turbine kostet schon mehr.“ Gegenüber den viel aggressiver agierenden asiatischen Konkurrenten haben da biedere Mittelständler wenig Chancen und räumen lieber freiwillig das Feld auf einem Markt, der immerhin fast 75 Millionen potentielle KonsumentInnen umfaßt.

Zumindest die Großen der deutschen Industrie versuchen in Vietnam Fuß zu fassen. Präsent sein ist alles. Gestern erst wurde mitgeteilt, daß Siemens gemeinsam mit der vietnamesischen Postgesellschaft im südvietnamesischen Song Be zwei Fabriken zur Produktion von Telekommunikationsteilen errichtet. Etwa 28 Millionen Mark stecken in dem Joint-venture, an dem Siemens 51 Prozent hält.

Kanzler Kohl seinerseits wird als Höhepunkt seines Besuchs den ersten Spatenstich für eine Fabrik von Daimler-Benz bei Ho-Chi-Minh-Stadt tun. Doch auch bei den Autokonzernen ist der Optimismus gedämpft. Die Regierung in Hanoi hat elf internationalen Autofirmen grünes Licht zur Produktion gegeben. Doch in ganz Vietnam wurden 1994 lediglich 10.000 Autos verkauft. lieb