60 Pfennig für jeden Flüchtling

■ UN-Flüchtlingshilfe: 50 Millionen Menschen weltweit entwurzelt. Kritik an der deutschen Zahlungsmoral

Bonn/Genf (taz) – Mehr Menschen denn je sind weltweit auf der Flucht. Und mehr als die Hälfte von ihnen sind Jugendliche oder Kinder. Das stellt der neueste Flüchtlingsbericht des UN-Hochkommissariats für Flüchtlinge (UNHCR) fest, der gestern zeitgleich in Bonn und Genf veröffentlicht wurde. Kriege, soziale Konflikte und die Furcht vor Verfolgung haben 50 Millionen Menschen entwurzelt.

Judith Kumin, UNHCR-Vertreterin in der Bundesrepublik, kritisierte zugleich, insbesondere die industrialisierten Staaten Westeuropas wie die Bundesrepublik setzten „falsche Zeichen zur falschen Zeit“. So würde die Aufnahme von Flüchtlingen zunehmend erschwert.

„In Asylverfahren werden ganze Gruppen schutzbedürftiger Flüchtlinge juristisch wegdefiniert“, kritisierte Kumin. Ein Netz von Drittstaatenregelungen und Rückübernahmeabkommen habe „die Gefahr von Kettenabschiebungen erhöht“. Präventiv statt reaktiv müsse zukünftig gehandelt werden.

Nicht nur mehr Entwicklungshilfe sei deshalb gefragt – vor allem Menschenrechtspolitik müsse offensiver betrieben werden. Denn Hauptursache für die Flüchtlingsströme seien massive Menschenrechtsverletzungen, die von der internationalen Staatengemeinschaft zu lange hingenommen würden. Vergrößern müsse sich auch das UNHCR-Budget für Hilfsprogramme, das 1994 bei 1,4 Milliarden Mark lag. Deutschland stehe dabei nur an zehnter Stelle der Geberländer, kritisierte die UNHCR-Sprecherin gegenüber der taz. 1994 zahlten die Deutschen 17 Millionen, 1995 aber nur noch 15,8 Millionen Dollar an das UNHCR: Das sind pro Flüchtling etwa 32 Pfennig.

Vor zehn Jahren hatte das UNHCR 10,5 Millionen Flüchtlinge betreut, heute sind es 27,4 Millionen. Nur knapp die Hälfte von ihnen haben auf ihrer Flucht internationale Grenzen überquert – die meisten sind Opfer von ethnischen und religiösen Konflikten innerhalb von Staatsgrenzen. „In diesen Konflikten wird das humanitäre Völkerrecht mit Füßen getreten“, mahnte Judith Kumin.

Sie erinnerte an die 400.000 geflüchteten Tschetschenen, an den Massenexodus aus dem bürgerkriegsgeschüttelten Sierra Leone und die Flüchtlinge aus Bosnien und Serbien. Im ehemaligen Jugoslawien werden 3,7 Millionen Menschen durch das UNHCR unterstützt. Die Kaukasusregion zählt 1,5 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene, und der Iran und Pakistan beherbergen noch 3 Millionen Flüchtlinge aus Afghanistan. Besonders hart getroffen ist Afrika. Allein in Burundi, Ruanda, Tansania, Uganda und Zaire werden 2,2 Millionen Menschen vom UNHCR unterstützt, dort gebe es die weltweit größte Konzentration von Flüchtlingen. Die Konflikte in Liberia und Sierra Leone hätten beinahe eine Million Menschen gezwungen, in Guinea und der Elfenbeinküste Zuflucht zu suchen. Holger Kulick