Als Stalin starb, hat Rudolf Bahro unter der FDJ-Fahne geheult. Als Honecker die Mauer baute, war er hochzufrieden. Jahre später wurde er zum Staatsfeind und schärfsten Gegner der SED-Altherrenriege. Heute ist er einer der radikalsten Kriti

Herr Bahro, viele sind erschrocken, als sie im Juni Ihr Bild im „Spiegel“ sahen. Sie haben Krebs, wie geht es Ihnen?

Rudolf Bahro: Mir geht es besser. Die Chemotherapie hat gut angeschlagen.

Beinahe wären Sie das Opfer Ihrer Glaubenslehre geworden. Jetzt hat Ihnen die Schulmedizin mit der schrecklichen Chemie das Leben gerettet.

Zweifel an der Schulmedizin sind noch keine Glaubenslehre. Die Ärzte hatten mir von Anfang an einen Erfolg der Chemotherapie versprochen. Beim Krebs des lymphatischen Systems, wie ich ihn habe, sind die Aussichten gut. Ich bin trotzdem erst mal geflüchtet, weil ich dachte, es muß doch noch etwas anderes geben. Aber ich habe erfolglos im Nebel gestochert.

Was haben Sie ausprobiert?

Ich habe mich vor allem an Herrn Hamer gewandt.

Das ist doch der Verrückte, der in Österreich die Krebsbehandlung eines kleinen Mädchens verhindert hat – der Fall Olivia.

Vermutlich ist an seinem Konzept der Krankheitsursachen tatsächlich etwas dran. Aber therapeutisch ist nichts passiert. Hamer empfiehlt einem, einfach zu warten, wenn man sich ausreichend mit dem Schock auseinandergesetzt hat. Ich wäre daran kaputtgegangen. Als ich nach vier Monaten Suche zurück in die Klinik ging, hatte mich der Krebs so stark durchwachsen, daß schon ein Gefäß gerissen war. Bald hatte ich nur noch 43 Kilo.

Eine drastische Lektion.

Ich muß anerkennen, daß die Chemotherapie, wie von den Ärzten angekündigt, sehr gut geholfen hat. Auch für die nächsten Jahre sind die Ärzte optimistisch.

Eine solch schwere Krankheit, dazu der runde 60. Geburtstag, das ist in der Regel Anlaß für eine Lebensbilanz. Man spürt, daß der Zollstock kürzer wird.

Ich habe im Krankenhaus einen noch unveröffentlichten Essay über die Befreiung aus dem Untergang der DDR geschrieben. Es hat viel mit der PDS zu tun, weil ich vor 30 Jahren auf diese Leute gesetzt hatte. Auch 1989 habe ich noch einmal all meine Illusionen investiert und bin zum SED-Parteitag gegangen. Immerhin haben damals 53 Prozent der Delegierten dafür gestimmt, daß ich eine halbe Stunde über Ökologie reden durfte. Ich glaube, viele haben erst in diesem Augenblick kapiert, daß ich mit meiner Kritik am DDR-Sozialismus kein Verräter war.

Vier Jahre später hatten Sie einen Briefwechsel mit Erich Honecker. Er hat sich bei Ihnen „mit kraftvollem Schriftzug“, wie Sie ironisch anmerkten, für Ihr Engagement bedankt. Sie wollten allen Ernstes in Moabit für Honecker eine Verteidigungsrede halten?

Ich hätte den Richtern gesagt, daß dieser Mann kein Kriminalfall ist. Hinter Honecker stand die historische Tatsache des Sieges der Roten Armee. Die rote Fahne auf dem Reichstag war ja im wohlverdienten Sinne deutsches Schicksal und die Konfrontation zwischen Bundesrepublik und DDR durchaus kein Zufall. Die DDR war die schwächere deutsche Landeshälfte mit einem entsprechend repressiven Regime. Dieses Regime wurde aber nie sadistisch. Ich hätte in meiner Rede die Legitimität der DDR hervorgehoben. Ich hätte gesagt, daß es kein westlich berufenes Gericht gibt, das über diese DDR und ihre Repräsentanten zu urteilen hat. Wenn überhaupt, müßte das ein „höheres“ Gericht tun. Und dann säße ich mit auf der Anklagebank.

Im Honecker-Prozeß ging es um die persönliche Verantwortung eines Menschen für Verfolgung und Tod anderer. Es ging auch um die Schüsse an der Mauer.

Ich habe meine eigene Mauergeschichte. 1961 habe ich den Bau der Mauer innerlich begrüßt. Endlich! Ich war damals 26, hatte Philosophie studiert, und ich war einfach nicht blöd genug, um nicht genau zu verstehen, was die Mauer bedeutete. Ich wußte, was da passieren würde. Ich wußte auch, daß dem schwächeren deutschen Staat die Menschen davonlaufen, wenn sie nicht davon abgehalten werden. Im Vergleich mit Honecker war ich nur ein bißchen weniger schuld, weil ich jünger war und eine ganz kleine Nummer in der Hierarchie. Wir dürfen aber nicht übersehen, daß hinter den Schüssen an der Mauer eine bittere historische Logik stand. Ich will das nicht verteidigen, aber dafür, daß sie die Hauptgrenze des Kalten Krieges war, ist an der Mauer wenig geschehen. Vor allem wenn man es mit dem vergleicht, was Ost und West in derselben Zeit in der Dritten Welt angerichtet haben.

Es ist doch ziemlich masochistisch, wenn Sie jetzt die DDR in Schutz nehmen und mit Honecker einen Mann verteidigen, der Sie als Konterrevolutionär verhaften ließ und Ihnen acht Jahren Bautzen aufbrummte. Sie müssen ihn doch hassen.

Den Haß hatte ich tatsächlich. Aber ich habe ihn abgearbeitet. Der große Erfolg meines Buches „Die Alternative“ half mir dabei. Zunächst traf mein Haß natürlich Ulbricht – wegen der Intervention gegen den Prager Frühling. Daß es dann Honecker war, der mich in Bautzen einsperren ließ, habe ich ihm persönlich nicht übel genommen. Ich weiß, daß Honecker zehn Jahre für mich verlangt hat. Acht Jahre habe ich dann gekriegt, weil wohl im ZK einer gesagt hat: Laßt uns den Bahro nicht so hoch hängen. Die zehn Jahre von Honecker waren keine politische Strafe, daraus sprach der Zorn eines wichtigen kleinen Mannes. Honi dachte, da hat man den Jungen nun studieren lassen, hat ihm eine Karriere eröffnet, er genießt alle Vorzüge, und jetzt wendet er sich gegen uns. Das hat ihn am meisten erbost.

Sie haben nie den Versuch gemacht, die Richter oder Staatsanwälte, die Sie damals verknackt haben, zu belangen?

Ich hatte mich anfangs an dieser Art von Vergangenheitsbewältigung beteiligt, weil ich offenlegen wollte, wie das System funktionierte. Als ich dann spürte, daß es nur noch um Schuld und Bestrafung ging, habe ich meine Aussagen zurückgezogen. Wenn die DDR noch eine gewisse Zeit weiterexistiert hätte, wäre die Aufarbeitung spannend gewesen. Aber mit Westmaßstäben erreicht man keine Gerechtigkeit.

Welche Motive unterstellen Sie den bundesdeutschen Richtern und Staatsanwälten, die über Markus Wolf und Egon Krenz urteilen?

Ich glaube durchaus, daß ihre Motive ehrbar sind, daß sie an ihr Rechtssystem glauben. Aber das ändert nichts daran, daß sie im Unrecht sind. Sie sind nicht befugt. Punkt. Diese Einsicht verbreitet sich inzwischen in allen politischen Lagern. Ich will den Markus Wolf damit keinesfalls freisprechen. Auch mich nicht. Aber eines weiß ich: Die Rechtsprechung der Bundesrepublik wird im Augenblick nicht von tiefen moralischen Werten, sondern von dem Satz bestimmt: Herr ich danke Dir, daß ich nicht bin wie jene Zöllner.

In Ihrem neuen Buch „Apokalypse oder Geist einer neuen Zeit“ geht es weniger um DDR-Vergangenheit, sondern um die „unheilbare industriell-kapitalistische Wirtschaftsgesellschaft“. Wie immer bei Bahro, ist die Analyse glänzend, und wie so oft sind die Lösungswege sektiererisch. Sie verlangen die Abkopplung von der übrigen Welt. Abgesehen davon: Warum fordern Sie, daß „die Logik der Selbstausrottung voll ans Licht“ müsse. Die Fakten liegen auf dem Tisch, wir wissen doch schon alles.

Was offensichtlich geworden ist, sind die Symptome, der schwere Hautausschlag unserer Industriegesellschaft. Aber was die Ursachen angeht, also das Industriesystem selbst, da ist die Mehrzahl der Menschen nach wie vor einverstanden. Sie glauben, daß Ökologie darin besteht, die aus dem Industriesystem überschießenden häßlichen Effekte irgendwie in den Griff zu kriegen. Nach dem Motto: Wir brauchen eine gute Salbe, dann verschwinden die Pickel. Natürlich ist der Mensch ein werkzeuggebrauchendes Wesen und in diesem Sinne industriell. Aber das heutige, pervertierte Industriesystem, diese Megamaschine mit ihrer ungeheuren Akkumulation und Konzentration des Kapitals – damit kann diese Menschheit keine 100 Jahre mehr existieren. Dieser Ursachenzusammenhang wird zwar mehrheitlich geahnt, aber in der eigentlichen Konsequenz doch nicht begriffen. Dazu kommt die männliche Sucht, Türmchen zu bauen: wieder eine andere Ursachenebene. Das alles wird nicht tief genug verstanden.

Gleichzeitig macht der ökologische Gedanke Karriere – bis in die Machteliten hinein. Die Bosse in Chemie-, Auto-, Atomindustrie werden inzwischen von den eigenen Kindern schief angesehen. Die ökologischen Werte bestimmen mehr und mehr den gesellschaftlichen Diskurs. Sie scheint das alles unbeeindruckt zu lassen.

Es ist tatsächlich etwas in Gang gekommen, das leugne ich nicht. Die moderne Formation weiß sich in der Krise. Das ist tatsächlich ein ungeheurer Fortschritt. Aber wir glauben noch immer, daß unsere Lebensweise zu retten ist. Analog zum Untergang Roms wird versucht, die imperiale Existenz eines weißen Zentrums zu bewahren. Was uns umbringt, ist doch, daß seit der Französischen Revolution jeder Bürger ein Sonnenkönig sein will.

Gut, jetzt wackelt das Ganze. Fast schon erfreulich finde ich die Hysterie, mit der gelegentlich der ökologische Gedanke abgewehrt wird. Das ist ein untrügliches Zeichen, daß etwas in Bewegung ist. Nehmen Sie nur mal den Chemiechef Henkel, wie der in der Debatte mit Joschka Fischer blindwütig das Weiter-So predigt. Er weiß natürlich genau, daß das nicht funktioniert. Deswegen wird er so wild. Das eigentliche Problem ist, daß schon gedanklich der Umbau der Gesellschaft von den Lebenstiefen her tabu ist. Es geht immer nur um Einschränkungen, letztlich um Kosmetik.

Das Wuppertal Institut sagt in seiner Studie über ein „zukunftsfähiges Deutschland“ klipp und klar, daß wir etwa beim Klimakiller CO2 oder beim Rohstoffverbrauch im nächsten halben Jahrhundert um 80 Prozent reduzieren müssen. Hier wird ein ungeheurer Einschnitt benannt.

Entscheidend dabei ist, daß solche Größenordnungen mit technischen Lösungen, mit ein bißchen Tempolimit und ein paar Filtern nicht mehr zu bewältigen sind. Wir brauchen ein ganz anderes Lebensmodell.

Sie glauben den Ausweg gefunden zu haben: Isolierung von der Welt, Meditation, Spiritualität, ein neues Benediktinertum, Kommune wagen. Nichts gegen gesunde Landluft, aber glauben Sie tatsächlich, daß ein paar Landkommunen gegenüber dieser Industriemaschine mit ihrem glitzernden Wohlstand einen ernstzunehmenden Gegenentwurf bedeuten? Daß sie den Wahnsinn aufhalten?

Ja, das glaube ich. Wir müssen den Kollaps des Industriesystems als dessen Eigenleistung dabei in Rechnung stellen. Darauf können wir uns verlassen. Die ökologische Krise ist die endgültige Grenze, und das Prinzip „small is beautiful“ wird die Rückzugsposition sein. Für einen kulturvollen Übergang kommt es jetzt darauf an, eine Lebensform zu finden, die etwa mit dem 25. Teil der Ressourcen auskommt, die ein amerikanischer Haushalt verbraucht. Ich finde es richtig, daß ein paar Leute das Hamsterrädchen verlassen und einfach nicht mehr mitrennen, daß sie versuchen, etwas Neues zu bauen. Das wichtigste dabei ist die Spiritualität. Das Politische bleibt aussichtslos, solange es nicht spirituell eingehängt ist.

Gut, heben wir also ab. Was meinen Sie mit Spiritualität?

Spiritualität wird leider immer mit Spiritismus oder mit dem Glauben an den lieben Gott verwechselt. Es geht um etwas anderes: Beim Fortschritt in die Zivilisation wurden die Verdrahtungen in unserem Großhirn mit immer mehr Dingen besetzt, also mit Stereoanlagen, Autos, Golfschlägern, Eigenheimen. Unsere Identifikation läuft über diese Dinge und nicht über die menschlichen Möglichkeiten im Ganzen. Der Rückzug bezweckt, diese Identifikationen zu sprengen.

Der Rückzug ist so neu nicht. In den 70er Jahren sind Tausende in die Landkommunen gegangen und haben repressionsfreie Radieschen gezüchtet. Die Probleme fingen beim Abwasch an und hörten beim Beziehungschaos auf. Und jeder hat seine Neurosen mitgebracht. Diese Projekte sind gescheitert.

Und sie scheitern noch! Völlig zutreffend. Der Umstand, daß sich im alternativen Milieu so viel soziale Deformation reproduziert, ist noch keine Widerlegung. Das sind die Kinderkrankheiten eines neuen Weges. Aber: Der Untergang Roms hat gezeigt, welch gewaltige Mentalitätsänderungen in wenigen Jahrhunderten möglich waren. Als der Heilige Benedikt aus seiner Höhle kroch, war das Prinzip „Bete und arbeite“ und die Einrichtung von Klöstern schon beinahe Volkskonsens. Heute gehen solche Umstellungsprozesse noch sehr viel schneller. Man darf auch nicht übersehen, daß es im Osten erst seit 1989 die Möglichkeit gibt, mit kommunitären Lebenszusammenhängen zu experimentieren.

Also müssen die Ostler denselben Unsinn noch mal machen.

Die alten Hasen in den Kommunen bringen ja ihre Erfahrungen aus früheren Projekten ein. Und heute geht es weniger um Produktionsgemeinschaften als um das Leben in geistiger Gemeinschaft. In Zeiten solch eines Umbruchs, in denen das Leben neu gestaltet wird, brauchen wir Lebensformen, die uns von ansozialisierten Vorurteilen befreien. Die Polemik gegen die Aussteiger empfinde ich als Ressentiment der Citymenschen, die natürlich die Vorzüge ihres Lebensmodells genießen.

Gut, wir müssen bessere Menschen werden, bevor wir uns wieder in die Politik einmischen. Das Problem ist nur, daß in diesem Land harte Entscheidungen anstehen, während Sie aufs Land flüchten. Sie verlangen eine „Rettungspolitik“, aber Sie machen dabei im Konkreten nicht mit. Politische Arbeit, etwa bei den Grünen, verspotten Sie als „machterwerbsorientierte Politikasterei“.

Wenn meine Kritik als Spott erscheint, dann ist das meine Hilflosigkeit. Was die Grünen angeht, so sind sie heute fast noch schlimmer als nutzlos. Sie sind durch und durch Teil des Systems, und der Kapitalismus müßte sie erfinden, wenn es sie nicht schon gäbe. Was meine eigene Rolle betrifft: Sie ist durchaus politisch. Ich mische mich weiter ein, ich halte meine Vorlesungsreihe, ich versuche ein Bewußtsein für die Ursachen der Ursachen zu schaffen.

Die Realpolitiker der Grünen sagen, es mache wenig Sinn, im Wirtshaus „Zum ewigen Radikalen“ zu sitzen und die reine Lehre zu predigen, während die anderen Parteien mit ihren Entscheidungen unser Leben bestimmen.

Ich muß doch fragen, ob das, was ich bewege, überhaupt richtig ist. Vielleicht stehe ich ja schon am Steuerrad der Titanic, während es überlebensnotwendig wäre, das Feuer in den Kesseln zu löschen. Der grüne Pragmatismus fragt nicht mehr nach den Inhalten. Vielleicht zwei Prozent ihrer Kräfte gelten noch den ursprünglichen Zielen. Bestenfalls erreicht grüne Politik heute einen minimalen Zeitgewinn für die geistige Umstellung. Diese Verzögerung des Zusammenbruchs würde aber auch ohne die Grünen laufen. Die Gesellschaft weiß inzwischen, daß sie das Huhn schlachtet, das die Eier legt.

Sie reden viel vom Zusammenbruch. Die Überlebensfähigkeit dieses Wirtschaftssystems wurde schon oft unterschätzt. Nehmen Sie den Stau. Seit Jahren warnen alle vor dem Verkehrsinfarkt, ein explodierender Crash als Endpunkt, der alle erlöst. Nur, den gibt es nicht. Es geht immer so weiter, es wird immer schlimmer, aber der Infarkt bleibt aus.

Gut, es geht weiter, aber es wird eine dunkle Zeit kommen. Schon heute erscheint unsere Existenz viel heller, als sie in Wirklichkeit ist.

60 Jahre Rudolf Bahro. Da gibt es die verrücktesten Eskapaden. Eine Konstante ist die Sehnsucht nach den großen Antworten. Bahro ist nicht links, nicht rechts, er schwebt zwei Etagen über uns.

Ich sehe mich als Kreuzung zwischen russischer Revolution und deutscher Klassik. Dazu kommt ein angeborener Optimismus. Ich weiß einfach, daß den Menschen viel mehr möglich ist. Ich war neun, als ich auf der Flucht die Mutter verlor. In den Jahren danach habe ich mir trotz Barackenlager und Betteln geistig den Mut bewahrt. Dabei bin ich selbständig im Kopf geworden. Dann kam der Marxismus in der Oberschule mit einem sehr, sehr überzeugenden, aufrichtigen Lehrer. Die russische Revolution hatte mich total fasziniert. Als Stalin starb, habe ich geheult. Ich stand mit dem Kleinkalibergewehr vor einem Altar, und unter der FDJ-Fahne las ich Bechers unsägliches Gedicht vor. Meine anderen Götter waren Schiller, Goethe und vor allem Beethoven. Meine früheste spirituelle Erfahrung, da lief es mir das Rückenmark rauf und runter, war das 5. Klavierkonzert Beethovens, aufgeführt von der Dresdner Philharmonie in dem scheunenartigen Kulturhaus von Eisenhüttenstadt, damals Stalinstadt. Es war eine Aufführung, um der Arbeiterklasse Kultur nahezubringen, und ich saß zufällig in der ersten Reihe ...

Aber woher kommt dieses Missionarische? Die „Süddeutsche Zeitung“ nennt Sie einen „Ketzer mit religiösem Bekennermut“.

Gar nicht schlecht. Der Marxismus war immer missionarisch: „Wer etwas erkannt hat, ist dafür verantwortlich, daß die Menschheit reformiert wird.“ Ohne diese Überzeugung hätte ich nie die „Alternative“ geschrieben. Das Buch war natürlich von der Illusion der Reformierbarkeit dieses Systems getragen. Noch nach '87 habe ich als Gorbatschow-Fan an diese Reformierbarkeit geglaubt. Daß der Mief, der zwischen den Bretterwänden des DDR-Sozialismus nistete, nicht weichen würde, ist mir erst nach der Wende richtig aufgegangen.

Warum sind Sie angesichts Ihrer Irrtümer – die Bhagwan-Episode zähle ich auch dazu – nicht mißtrauischer gegenüber den eigenen Antworten? Warum geht es nicht mal eine Nummer kleiner, eine Nummer leiser?

Grundsätzlich betrachtet, fand ich es nie irrig an der DDR mitgewirkt zu haben, so viele Irrungen auch im einzelnen damit einhergingen. Und die Bhagwan-Episode war für mich unterm Strich eine gute Erfahrung. Ich war ja nicht Sanyasi. Aber Bhagwan hat mich interessiert, ich wollte diese Erfahrung machen. Ich habe in Oregon körperorientierte Workshops mitgemacht. Ich war damals noch beladen vom DDR-Gefängnis, von der Futteral-Existenz in der DDR. Der Input dieser indischen Spiritualität hat mir geholfen, auch wenn das Züge von Scharlatanerie hatte.

Den Bhagwan-Jüngern wird das eigene Denken abgenommen. Sie verlieren ihre Individualität, werden im Käfig dieser Heilslehre gehalten, dazu noch die orangene Uniformkutte. Das ist doch entsetzlich.

Ja. Wenn dies das Wesen der Sache wäre. Man kann es auch so sehen, daß die Individualität durch die Selbstaufgabe überhaupt erst ihre Chance kriegt gegenüber all den Ismen in uns. Die eigentliche Botschaft von Bhagwan hieß: Macht euch frei von den Identifikationsangeboten der bürgerlichen Gesellschaft.

Noch mal: Warum sind Sie nicht mißtrauischer gegenüber den großen Antworten? Heute weiß doch keiner mehr so richtig, wo es langgeht – das Ende der großen Entwürfe.

Das ist das typische Zeitgeist- Vorurteil. Offenbar sind Sie sich einiger Dinge mindestens so gewiß wie ich. Warum soll ich nicht ausdrücken dürfen, wo ich meine, daß es langgeht. Auch wenn man es vielleicht mit Brecht hält: „Ich bereite gerade meinen nächsten Irrtum vor.“ Wenn die eigene Kompaßnadel die Richtung der Wahrheit sucht, dann heißt das noch nicht, man hätte sie auch gefunden.

„Wahrheit“ – ein furchtbarer Begriff.

Ja? Ich will mich dennoch nicht hüten, nach der Wahrheit zu fragen, und zu formulieren, was ich erkennen kann. Meine Krankheit hat mir geholfen, zu sehen, daß auch Leute aus ganz anderen Lagern Momente der Wahrheit vertreten. Niemand hat sie gepachtet. Aber Ihrem Umkehrschluß – niemand weiß etwas, und wehe, es wagt jemand eine Richtung vorzuschlagen – kann ich nicht folgen.

Schauen wir mal Richtung PDS. Die Wessis blicken augenblicklich ziemlich irritiert gen Osten. In der taz schrieb ein Ossi, sie blicken „wie in einen Zoo“. Dort entdecken sie die fremdartige Spezies der PDS-Wähler – und verstehen die Welt nicht mehr.

Mit dem Zoo-Blick sehen wir immer das Falsche. Echt sind die Affen nur im Urwald. Aber ernsthaft: Der Bruch mit den alten Lebensformen war nach der Wende weitgehender, als es sich Wessis jemals vorstellen können. Das Behütete des DDR-Staates ist weg, die soziale Sicherheit für die einfachen Stammesmitglieder war in der DDR viel größer. Man konnte sich auch in den Betrieben viel mehr rausnehmen. Glauben Sie bloß nicht, daß jeder, der mal auf die Partei schimpfte, gleich mit der Stasi rechnen mußte. Der PDS-Erfolg ist also erst mal Ostalgie...

... und er wird durch den rüden Umgang mit der PDS noch verstärkt.

Das spielt eine Rolle. Der Osten weiß natürlich, daß PDS und SED nicht das selbe sind. Dieses dauernde Draufrumklopfen, das Schlechtmachen der DDR, dieser Entwertungsprozeß, das treibt sie erst recht in die Arme der PDS.

Dann ist die Identifikation mit der DDR doch stärker als vermutet?

Sie ist stärker, als es die Leute im Osten selbst wissen. Ich schätze, daß mindestens jeder Dritte für die Existenz der DDR war. Ein weiteres Drittel war unentschieden. Die waren zwar mit vielem unzufrieden, hatten aber grundsätzlich nichts gegen die DDR.

PDS wählen ist natürlich auch eine konservative Haltung. Das darf man nicht vergessen. Die Leute, die in Leipzig in der SED waren, die wären in München in der CSU und in Bremen in der SPD gewesen. Dann gibt es selbst heute noch PDS-Mitglieder und Wähler, die vom Ideal des Kommunismus genauso angerührt sind, wie ich es war. Sonst wäre der Fall Sarah Wagenknecht nicht erklärbar. Wer mit Norbert Blüm der Meinung ist, daß Marx tot ist und Jesus lebt, der guckt wirklich wie in einen Zoo.

Wird die PDS überleben?

Der Trotz nimmt zu. Sie können im Osten bis zu 50 Prozent PDS- Stimmen erwarten, in Berlin auf jeden Fall. Wer heute PDS wählt, wählt sie auf jeden Fall mit größerer Inbrunst als diejenigen, die SPD oder CDU wählen. Im Moment jedenfalls halte ich die PDS auch für notwendig. Für eine möglicherweise positive Verarbeitung der DDR-Vergangenheit ist sie nützlich. Der Westen kann das nicht, weil ihm die Antenne für die DDR-Verhältnisse fehlt. Inzwischen weiß die PDS auch das Öko- Thema gut zu verwalten. Die Grünen haben es sowieso schwer: Selbst der fortschrittlichste DDR- Bürger hatte schon immer seine Probleme, wenn er einen wie Kuntzelmann sah. Die sind einfach autoritärer hier.

Zum Schluß haben Sie einen Wunsch zum 60. frei:

Ich wünsche mir für zehn Jahre halbwegs Gesundheit. Ich sehe noch Bedarf an meiner geistigen Tätigkeit.