Die ganze Unlogik der Realität

■ Eine apokalyptische Vision von Rosie Scott, ein Drogenkrimi von Ingvar Ambjørnsen, eine Versuchsanordnung vom selben Autor: drei interessante Neuerscheinungen

Richtig unbehaglich und fröstelig wird es einem mit Rosie Scotts neuem Roman Raubstadt auf dem kuscheligen Sofa an einem trüben Novemberwochenende. Denn was der Hamburger Argument Verlag da herausgegeben hat, ist ein gruselig-surrealer Großstadt-Alptraum.

Gemütlicher hatte sich auch die Romanheldin Faith ihre Rückkehr in ihre neuseeländische Heimatstadt Auckland vorgestellt. Nach jahrelangem Herumvagabundieren und dem Aids-Tod ihres Mannes wollte die Ex-Junkie den Buchladen ihrer Eltern übernehmen und mit ihrer Schwester Violet zusammensein. Doch statt großstädtischer Lebendigkeit und kultureller Vielfalt, muß sie erkennen, daß aus dem Ort ihrer Kindheit ein menschlich verwüsteter Slum geworden ist.

Ob es die Gegenwart ist oder eine warnende Science-fiction-Geschichte, läßt Rosie Scott offen. Doch Verarmung ganzer Stadtteile, die Szenerie drogensüchtiger Jugendbanden und ganzer Heerscharen von Obdachlosen, das alles ist so vertraut, daß man es so weit nicht von sich wegschieben kann. Der Verfall der Zivilisation ist so sichtbar und unsichtbar zugleich wie das Ozonloch.

Trotzdem bleibt Faith eine Romantikerin: Mit Hingabe versucht sie, aus der Groschenroman-Buchhandlung ihrer Eltern eine Begegnungsstätte der Literatur zu machen, eine humanitäre Oase in der unbarmherzigen Raubstadt Auckland. Das wahre Ausmaß der Katastrophe nimmt sie auch dann nicht zur Kenntnis, als ihre Schwester Violet ihr ein gigantisches Obdachlosenlager zeigt, wo täglich gestorben wird. Wo die Politik längst versagt, hat ein Häuflein Aufrechter Essensausgaben und eine Notversorgung organisiert. Erst viel später erfährt Faith, daß ihre Schwester Violet, Initiatorin und politischer Kopf der Protestbewegung, eine Art Volksheldin geworden ist – eine surreale Mutter Theresa.

Eifersucht und Scham sind die ersten Gefühle, die Faith beschleichen, als sie die Bedeutung ihrer Schwester begreift. Zuerst hatte sie angenommen, daß die bläßliche und schmächtige Violet inzwischen auf den Strich geht, daß ihr morbider Charme Ausdruck einer völligen Resignation ist. Enttäuschung empfindet sie auch darüber, die Schwester nicht für sich allein zu haben, sie teilen zu müssen.

Als das Massensterben der Besitzlosen immer unerträglicher wird, mobilisiert Violet zu einer Großkundgebung. Schon Tage vorher kreisen die Polizeihubschrauber. Wo Marktwirtschaft ungebremst selektiert, kommt es in diesem surrealen Roman der Jahrtausendwende zum Verteilungskrieg.

Eine verdrießliche und hoffnungslose Gesellschaftsanalyse a la George Orwell ist Rosie Scotts Raubstadt aber trotz allem. Der Roman ist eine brillant geschriebene Warnung vor der menschlichen Verrohung jenseits moralistischer Wehleidigkeit und sozialem Elendskitsch. Silke Mertins

Rosie Scott: Raubstadt, aus dem Englischen von Else Laudan und Martin Grundmann; Edition Ariadne, 214 Seiten, 34 Mark.