Wostratzky, der König vom Querbahnsteig

Wie sehr die Leipziger ihren Bahnhof lieben, merken sie erst jetzt, wo er für Autos und Geschäfte aufgerissen wird. Heinz Wostratzky hat 20 Jahre das Mitropa-Restaurant geleitet. Er trauert ein bißchen, jobbt im Westen und besucht seine große Liebe nur noch selten  ■ Von Thorsten Schmitz

Der Liebhaber des 270 Meter breiten Leipziger Bahnhofs mißt 1,60 Meter – und hat einen markanten Sprachfehler, seit November 1989. Die Wende nämlich setzt Heinz Wostratzky mit dem Ende einer militärischen Auseinandersetzung gleich, unwillentlich: „Nach dem Krieg, äh, nach der Wende ...“ Der Mann, dessen Frau von ihm behauptet, er sei mit Europas größtem Kopfbahnhof verheiratet, kichert über seinen Lapsus jedesmal, daß die Apfelbacken glühen.

Bis kurz vor „Kriegsende“ regierte Herr Wostratzky 450 Kellner, Köche, Konditoren und Kassiererinnen im Restaurant auf dem Querbahnsteig und der darüber liegenden Großküche. Die sacht sozialistisch gestylte Bewirtschaftung füllte 24 Stunden am Tag die Mägen Tausender Werktätiger – Leipzig, die Weltstadt mit Mitropa.

Heute ist der Bauch des Bahnhofs versiegelt – mit zwei goldenen Vorhängeschlössern. Nur durch einen schmalen Spalt kann Herr Wostratzky noch Kronleuchter und Holzvertäfelungen erkennen. „Schade“, sagt er mit leiser Stimme und erträgt den Anblick seines ehemaligen Wirkungskreises nur für Sekunden, „den Saal hätte ich gerne gezeigt. Das wäre Sahne gewesen.“ Unter Wostratzkys Ägide schoben die Angestellten täglich 8.000 Mahlzeiten über die Theke, davon 5.000 warme. Außerdem 1.000 Stück Kuchen, 40 Torten, 1.000 Tassen Kaffee, 500 Tassen Tee, 500 Gläser Brause, belegte Brote, Suppen.

Geblieben vom Full-time-Job im Bahnhofslokal mit 1.050 Sitzplätzen, von täglich 16 Stunden auf Achse, ist dem quirligen Mann mit dem losen Mundwerk die Pünktlichkeit, mit der er Verabredungen einhält. Um 14 Uhr an der Ostseite verspricht er zu sein – und als der Zeiger der Bahnhofsuhr die Stunde komplettiert, steigt er aus seinem weißen Polo und stürmt mit Aktenkoffer und wehender Tolle die Stufen hinauf. Heinz Wostratzky, 74, hängt nicht nostalgischen Erinnerungen nach, von wegen. Er jobbt drei Tage die Woche in Westberlin, denn irgendwoher muß das Geld ja kommen für die Thermopenfenster in seinem Haus in Leipzig-Taucha.

Es ist das erste Mal seit zwei Jahren, daß er sich wieder auf diesen Bahnhof wagt. Im Dezember 1989 hatte man ihn mit der größtmöglichen Demütigung seines Amtes enthoben: „Herr Wostratzky, Sie sind zu alt.“ Den Satz kann er nicht vergessen. Er liebt seinen Bahnhof – den von damals. Mit dem Polo-Schlüssel in der Hand zeichnet er den Alltag nach auf Bahnsteig 14, Anekdoten und tragische Momente: In seinen Adern fließt Bahnhofsblut, wenn das möglich ist. Es hat ihn begeistert, für Tausende von Menschen dagewesen zu sein. Aber heute: „Was soll ich denn hier, ich habe hier nichts mehr zu schaffen.“

Ihn schmerzen die mobilen Wurst- und Pommesstände mit ihren Plastikhockern und dem Kunstrasenteppich drumherum. „Die Leute stehen da wie Pferde am Futtertrog.“ Und wie, bitteschön, soll sich einer wie Herr Wostratzky daran gewöhnen, daß seinem Bahnhof bis 1997 ein Parkdeck und eine Ladengalerie implantiert werden? Daß dafür der Querbahnsteig in voller Länge aufgeschlitzt wird? In Computersimulationen, die den Bahnhof von morgen zeigen, wirken selbst ICE- Züge nur noch wie vor der Ladenzeile abgestellt.

An allen Ecken werden in Leipzig Bürohäuser, Hotels und Einkaufscenter hochgezogen, Großanleger, Banker und Spekulanten schaufelten seit der Wende Milliarden in die alte Messestadt. Und nun soll auch noch der Bahnhof geliftet werden – in dieser Zeit, in der den Leipzigern ohnehin alles abhanden kommt. Die neue Politur für den Jugendstilkoloß in Downtown Leipzig – das kratzt auch an der Identität des Herrn Wostratzky. Aber das zuzugeben liegt ihm nicht: „So sensibel bin ich nicht“, behauptet er. Daß künftig Autos in der denkmalgeschützten Halle parken sollen, übersteigt schlicht seine Vorstellungskraft. Und seine Kraft zum Widerspruch: „Schön ist es nicht, aber die Autos sind halt da.“

Die Stippvisite unter den sechs Bahnhofskuppeln, die man „Schürzen“ nennt, verläuft hastig. Herr Wostratzky stoppt mal hier, mal da, Geschichten von damals sprudeln aus ihm raus und dann plötzlich auch die Frühtemperaturen aus Paris, Madrid, Moskau und London, die er noch im Autoradio aufgeschnappt hat. Und schon ist er wieder weiter. Weil er eine Dampflok aus Babelsberg inspiziert, die gerade reinzischt, weil er prüft, wo der Marmorbelag aus der Nach-Wende- Ära endet und der Zementfußboden auf Bahnsteig 24 beginnt. Niemand kennt die Innereien des Leipziger Bahnhofs so detailliert wie Heinz Wostratzky. In seinem Mitropa-Restaurant hat er gelauscht so oft es ging, wenn die Zugführer fachsimpelten.

In seinem Aktenkoffer liegen zwei Bücher über die Geschichte des Bahnhofs und ein hämischer Artikel aus der Bild-Zeitung über den „katastrophalen Betrieb“ des Mitropa-Restaurants. „Schlamperservice“ hieß es da fettgedruckt, „bekleckerte Tischdecken“, „verqualmte Kneipe“. Sowas tut weh. Zwanzig Jahre lang hat Herr Wostratzky sein Bestes gegeben. „Und wir waren doch kein autonomer Betrieb“, regt er sich auf. So laut, daß der vor sich hinbrabbelnde Penner am Pizza-Imbiß verstummt.

Die drei Intershops im Bahnhofsgebäude, rechtfertigt Herr Wostratzky sich, hatten Sanyo-Kassen zum Devisenscheffeln, das Mitropa-Personal russische Registrierkassen für die Ost- Mark. „Wenn Sie einmal mit der Faust auf den Tisch gehaut haben, blieben die stehen.“ Wenn die Heizung ausfiel, weil das Beheizen der 450 Weichen alles Gas verschlang, servierten die Kellner in wattierten Jacken. Und manchmal blieben die Essensreste an den Tellern kleben, weil es kein warmes Wasser gab. Noch heute kann sich Herr Wostratzky schwarz ärgern wie damals, wenn die Ventile für die Kaffeemaschinen nicht mehr funktionierten. Neue gab es nur im Westen, das Stück zu 15 Pfennigen, West. Manchmal war Wostratzky versucht, einem Schaffner 25 Pfennige Trinkgeld in die Hand zu drücken, damit der neue Ventile in die DDR schmuggelte. „Das habe ich mich nicht getraut.“ Ach, seufzt Herr Wostratzky mehr für sich, das sind Geschichten, die keinen mehr interessieren.

Das Facelifting des Bahnhofs hält er für „vielleicht größenwahnsinnig. Soviel Geld zum Ausgeben besitzen die Leipziger doch gar nicht.“

Herr Wostratzky macht sich Sorgen um seinen Bahnhof.

Aus lauter Liebe zu ihm legte er sich sogar mal mit der Staatsmacht an. Die Toiletten auf dem Querbahnsteig stanken zum Himmel, und so suchte er einen Pächter, der sie sauberhalten sollte. Er fand auch einen, der 20 Pfennige Benutzungsgebühr verlangte. Eines Tages, irgendwann 1982, wurde Herr Wostratzky zum Rathaus beordert, wo ihm acht Männer in hohen Funktionen den Vorwurf machten, er betreibe „Reprivatisierung“. An die Toiletten-Inquisition kann er sich lebhaft erinnern: „Ich habe geschwitzt vor Aufregung.“

Kalt ist es fast immer auf dem Querbahnsteig und gespenstisch leer, Herr Wostratzky serviert sofort die Erklärungen. Die Gleise führen direkt nach Nordosten, „wo der Wind herkommt, der in Berlin das Wetter macht“ – und leer, „traurig leer“ ist die Bahnhofshalle zu jeder Tageszeit, „weil wir 17 Jahre auf Autos warten mußten und jetzt jeder eines besitzt“. Der Mitropa-Mann steht am Gleis 12 und guckt einem Zug nach, der gerade nach Halle losfährt. „Unglaublich, in jedem Waggon sitzt nur ein Mensch.“ Er sagt das in einem Ton, als trüge er persönlich Schuld daran. Und seufzt.

Wenn ein Zug Verspätung hatte, „standen die Leute zu Hunderten Schlange vor unserem Restaurant, Himmel!“ Herr Wostratzky verdreht die Augen, sowas nennt man Wehmut. „Wenn ich morgens zur Arbeit kam, drückten die Kellner ihre Zigarretten aus, die Köche standen auf, die Reinigungsfrauen putzten.“ Dann war er zufrieden. Das war die Zeit, in der der König vom Querbahnsteig das Leben in vollen Zügen genoß. „Und wenn die Genossen in unserem Mitropa-Lokal etwas zu bereden hatten, wurde ich aufgefordert, den Raum zu verlassen.“ Zehnmal ist er aufgefordert worden, in die Partei einzutreten, zehnmal hat er nein gesagt.

Es ist spät geworden, und Herr Wostratzky hätte schon längst wieder zu Hause sein sollen. Er kann sich nicht richtig trennen von seinem Bahnhof. Selbst in den zugigsten Winkeln bleibt er stehen – und guckt. Die Kollegen von früher, an die muß er gerade denken. „Man kommt nicht mehr zusammen.“ Er vermißt das, heute muß jeder eben sehen, wie er zurechtkommt.

Plötzlich winkt eine Eisverkäuferin auf dem Querbahnsteig. Es ist eine frühere Serviererin.

„Ach, was machen Sie denn hier, Herr Wostratzky?“

„Nur mal ein bißchen schauen. Wie geht es Ihnen?“

„Nun ja, im Dezember höre ich hier auf. Ist ja auch viel zu kalt, und außerdem haben die uns gekündigt, weil die doch den Bahnhof umbauen. Da sind wir im Weg.“

„Ich muß dann weiter. Einen schönen Tag noch.“

„Herr Wostratzky, Sie hätten hierbleiben müssen.“

Sie schütteln sich die Hände, Heinz Wostratzky eilt davon, als müßte er fliehen vor dem Bahnhof, vor den Erinnerungen. Hastet die Treppen runter zum Parkplatz, den Aktenkoffer in der linken Hand. Wie zu sich selbst hat er noch gemurmelt: „Das hört man aber gerne, daß die Leute so über einen denken.“